Mental stark und ohne Druck: Warum Verl oben mitmischt
Er mausert sich mehr und mehr zur größten Überraschung der laufenden Saison: Der SC Verl ist vorerst auf den vierten Tabellenplatz gestürmt, hat dabei sogar noch einen Spielvorteil gegenüber der Konkurrenz. Warum diese gewarnt sein sollte und von welchen Derbys man in Ostwestfalen nun vorsichtig träumen darf.
Janjic: "Es macht Spaß"
"Gute Frage", sagte Zlatko Janjic nur und lächelte verschmitzt. 34 Jahre alt ist der Stürmer, als Fußballer also nicht mehr weit entfernt vom Ruhestand, gesegnet mit einem unnachahmlichen Torriecher und ausgestattet mit so viel Erfahrung – allen voran in der 3. Liga. Was einen Aufsteiger ausmacht, weiß Janjic genau, er hat dieses Kunststück mit dem MSV Duisburg bereits einmal vollbracht. Nun also stand er da, nach dem 4:2-Erfolg des SC Verl über den Halleschen FC am Sonntag, hatte sich mit seinem achten Saisontor und 75. Drittliga-Treffer seiner Karriere auch noch auf Platz 2 der ewigen Torjäger-Tabelle der 3. Liga vorgearbeitet. Vielleicht wusste er schon vorab, dass ihn genau diese Frage erwarten würde. Wohin führt die Reise diesen Sportclub Verl noch? Oder, etwas anders formuliert: Ist der Aufsteiger in der Lage, den Durchmarsch zu schaffen? "Die Momentaufnahme ist gut", sagte Janjic nur. "Es macht Spaß und die Jungs sind hungrig."
Ein bisschen Einordnung schadet ja nie. Wer die 3. Liga in den vergangenen Jahren verfolgt hat, der weiß: Eigentlich vergeht kaum ein Jahr, in dem nicht ein Außenseiter mindestens phasenweise die Tabelle aufmischt. Auch Vertreter aus dem Fußball-Westen waren darunter: Fortuna Köln hatte mal seine Zeiten im Aufstiegsrennen, aber hielt sich dort nicht. Die Sportfreunde Lotte grüßten direkt nach ihrem Aufstieg zwischenzeitlich sogar von der Tabellenspitze, ehe der schleichende und dann immer schneller werdende Absturz begann. Nun ist es also der SC Verl: 23 Punkte aus zwölf Spielen, zuletzt viermal unbesiegt und selbst den formstarken HFC dem Weg geräumt. Das Momentum liegt klar auf der Seite der Ostwestfalen, die Euphorie nach dem sensationellen Aufstieg im Sommer ist weiter gewachsen. Wie gut, dass sich diese Region über ihre Bodenständigkeit manifestiert. Phrasen wie "Wir schauen überhaupt nicht auf die Tabelle" haben nun Hochsaison an der Poststraße.
Chancen auf die Tabellenführung
Es sind viele Faktoren, die in ihrem Zusammenspiel derzeit den Verler Höhenflug begünstigen. Sicherlich spielt die Mannschaft seit Wochen an ihrem Leistungsmaximum, der Rückenwind treibt sie immer wieder dorthin. Doch das allein taugt nicht zur Erklärung und würde dem Liganeuling auch nicht gerecht. Sezieren wir beispielhaft das 4:2 gegen Halle: Zwei frühe Tore – "wir haben losgelegt wie die Feuerwehr", sagte Trainer Guerino Capretti dazu – sorgten für den optimalen Beginn. Dann aber strauchelte Verl kurz, Kapitän Julian Stöckner musste verletzt vom Feld, Neuzugang Barne Pernot kurzerhand in die Innenverteidigung ausweichen. Bis zur Pause dominierte der HFC, schaffte sogar noch den Anschluss. Die Spielwende schien nur eine Frage der Zeit, doch nach dem Seitenwechsel kam der Sportclub aus der Kabine wie ein Donnerwetter, die Gäste wussten kaum, wie ihnen geschieht. Es stand schnell 3:1, dann 4:1, ein fünfter oder sechster Treffer war auch drin. Die Reaktion, die der Aufsteiger zeigte, war schlicht herausragend.
Mentalität, Zusammenhalt, eine klare und mutige taktische Ausrichtung sowie die individuelle Klasse in vorderster Reihe bleiben bis dato die Erfolgsgaranten. Und natürlich lebt es sich in der Rolle als Jagender leichter, obgleich die Tabelle derzeit verzerrt ist: Drei Punkte Rückstand hat der SCV auf den Ersten Dresden, doch alle Klubs im oberen Viertel haben derzeit alle 14 Spiele absolviert. Verl, das sich auch von einem Corona-Ausbruch innerhalb des Teams vor einigen Wochen nicht zurückwerfen ließ, hat noch zwei Nachholspiele zu absolvieren. Schon ein Sieg daraus könnte genügen, um im bereinigten Klassement an die Spitze zu ziehen. Aber selbst das dürfte einen Verein, der im Vorjahr die betuchte Regionalliga-Konkurrenz – allen voran Rot-Weiss Essen – in einem hochklassigen Aufstiegskampf zu distanzieren wusste, nicht mehr einschüchtern.
Unbeschwert ins Abenteuer gestürzt
Die Konkurrenz ist jedenfalls gewarnt. Während der 1. FC Saarbrücken als Aufsteiger-Pendant seine erste Schwächephase durchlebt, blüht der Fußball in der Kleinstadt zwischen Bielefeld und Paderborn erst richtig auf. Verl träumt – nicht zuletzt von Duellen mit den Aushängeschildern der genannten Nachbarstädte, die je nach Ausgang dieser Spielzeit für 2021/22 alles andere als unrealistisch sind. Jedem im Verein ist bewusst, wie viel allein infrastrukturell aufgeholt werden musste – derzeit besitzt der SCV ja nicht einmal ein drittliga-taugliches Stadion. Es bleibt eben ein großes Abenteuer, in das sich der Sportclub begeben hat. Quasi eine Reise ins Unbekannte, ohne konkret definiertes Ziel. Doch das sorgt für Leichtigkeit und Unbeschwertheit – und vielleicht ist dies derzeit der größte Vorteil, den Verl gegenüber zahlreichen Kontrahenten in der oberen Tabellenhälfte hat.