Capretti-Aus in Verl: Neuanfang mit begrenztem Risiko

Mancher dachte sich schon Ende Dezember, als Guerino Capretti seinen Abschied vom SC Verl in diesem Sommer verkündete: Ob diese Beziehung noch bis dahin halten wird? Wer daran zweifelte, sieht sich jetzt bestätigt. Die Ostwestfalen ziehen den Schlussstrich vorzeitig – und gehen damit in kalkuliertes Risiko. Eine Analyse.

Keinem fiel der Abschied leicht

Niemanden fiel der Abschied am Dienstag leicht. Nicht Trainer Capretti, der sich, wie er selbst sagte, "ein anderes Ende" gewünscht hatte. Aus seiner Enttäuschung machte der 40-Jährige keinen Hehl. Das 1:1 gegen Viktoria Berlin war das letzte von 182 Spielen an der Seitenlinie des Verler Sportclubs, aus denen er 72 Siege holte, 65 mal die Punkte teilte und 45 Mal verlor. "Ich hätte den Klassenerhalt zusammen mit Euch geschafft", sagte Capretti in einer Videobotschaft bei Instagram. Diese Überzeugung hatte dem Deutsch-Italiener immer geholfen auf seinem bisherigen Karriereweg. 2017 gekommen vom Delbrücker SC aus der 6. Liga, nun gegangen als gewachsener Drittliga-Trainer, der spätestens im Sommer eine neue Aufgabe annehmen will und dafür trotz der zuletzt mäßigen Ergebnisse in Verl eine starke Argumentationsbasis für sich geschaffen hat.

Auch dem Verein soll die Entscheidung schwergefallen sein. Verls Führungsetage um Klubboss Raimund Bertels und den erst vor wenigen Wochen installierten Sportlichen Leiter Sebastian Lange entschloss sich zu diesem undankbaren Schritt in einer Situation, in der ihnen attestiert werden muss: Richtet sich der SCV allein auf das Ziel Klassenerhalt in der 3. Liga aus und braucht es dafür den berühmten "Impuls" an die Mannschaft, ist der Zeitpunkt noch nicht zu spät. Der Verein hat den 17. Platz inne, das Trio dahinter – den drohenden Türkgücü-Punktabzug eingerechnet – ist ein gutes Stück entfernt, die Kontrahenten ab Platz 16 und darüber noch in Sichtweite.

Von guten Auftritten und enttäuschenden direkten Duellen

Doch das Tempo zieht an, Duisburg gewinnt hin und wieder, Halle kämpft sich aus dem Keller. Ein Blick auf das theoretische Leistungspotenzial genügt, um zu wissen, dass diese Mannschaft keine ist, die absteigen muss. "Sie wird es schaffen", sagt Capretti selbst. Es spricht für ihn, dass er die Treue auch nach dem Abschied wahrt, nicht nachkartet – und sich überhaupt kurz nach der Trennung äußert, die vielleicht schon zum Jahreswechsel hin hätte vollzogen werden können. Wie oft ist das so: Im Nachhinein ist man schlauer. Als Gegenbeispiel fungiert Lukas Kwasniok, der im Vorjahr die Saison mit Saarbrücken vernünftig zu Ende brachte, obwohl der Abgang seit Anfang Februar beschlossene Sache war.

Verl riskiert etwas mit diesem Wechsel und gibt zeitgleich Risiko ab. Mit Capretti als "Lame Duck" – diesen Status hätte er im Abstiegsfall unweigerlich getragen – in die Regionalliga zu gehen, wäre der schlechtestmögliche Ausgang gewesen. Ein Szenario, das der Klub mehr denn je befürchtet hatte. Auf das späte 2:0 gegen Würzburg zum Jahresauftakt folgten wieder fünf sieglose Spiele, insgesamt stehen in der Bilanz nur fünf von 26 möglichen Siegen. Bis zuletzt gab es gleichwohl deutliche Signale, dass das Team "lebt", etwa das 1:1-Remis in Braunschweig, als Verl den Aufstiegskandidaten phasenweise dominierte. Doch gerade in den beiden direkten Duellen wie zuletzt gegen Halle und in Berlin missfielen der Führungsriege Leistung und Mentalität.

Kniat muss die gleichen Widerstände brechen

Nachfolger Michél Kniat soll die Mannschaft auch mental auf das letzte Saisondrittel vorbereiten. Überhaupt: Michél Kniat. Außerhalb der Region Ostwestfalen – Kniat kommt von der Reserve des SC Paderborn, zu dem die Verler kurze Drähte gespannt haben – kennt den 36-Jährigen kaum einer. Und doch passt er zur Strategie, ist das nächste lokale Talent wie einst Capretti. Die Fußstapfen, die es zu füllen gilt, sind enorm, der Druck von außen bei einem der kleinsten Drittligisten dagegen geringer. Ein Abstieg, so ließ es Raimund Bertels bereits bei der Vorstellung wissen, soll nichts am bis 2024 gültigen Vertrag ändern: Kniat soll am liebsten der Garant für das nächste Drittliga-Jahr werden und wenn nicht, dann den Neuaufbau einleiten. Einen, vor dem die Verler Respekt haben: In der Regionalliga tummeln sich mit Essen, Fortuna Köln, Münster, Oberhausen und Wuppertal einige Schwergewichte – vier davon auch im kommenden Jahr. Noch so ein Sensationsjahr wie die Saison 2019/20 ist an der Poststraße alles andere als selbstverständlich. Ein Ligaverbleib wäre praktischer, als sich nochmals durch dieses Nadelöhr quetschen zu müssen.

Kniat findet eine ordentliche Basis vor, dieses Projekt zu schaffen. Verl hat nur drei Tore weniger erzielt als der Zweite aus Kaiserslautern, ein annehmbares Torverhältnis, eine eingespielte Offensive, der das Treffer-Gen trotz der ordentlichen Torausbeute aber zuletzt zu oft abgegangen ist. Was Kniat, wie Vorgänger Capretti in der aktiven Spielerkarriere Innenverteidiger bis hin zur Regionalliga, richten muss, ist seine Kernkompetenz: die immer mal wieder wackelnde Defensive (48 Gegentore). Auch muss Kniat die Widerstände brechen, die Verl in dieser Saison nicht abschaffen kann – allen voran die undankbaren "Auswärtsheimspiele" im 70 Kilometer entfernten Lotte, noch dazu auf einem seit Monaten drittliga-unwürdigen Rasen, der dem spielstarkem SCV alles andere als entgegenkommt und auch das Debüt am Freitagabend gegen Zwickau erschwert.

Funktioniert der SC Verl auf sportlicher Ebene allein wegen der Person Guerino Capretti oder geht es auch ohne ihn? Hatte sich das Verhältnis womöglich sogar abgenutzt und der Impuls erweist sich als die genau richtige Entscheidung? Die nächsten Wochen stehen unter genauer Beobachtung.

   

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