Strittige Szenen am 21. Spieltag: Die Analyse von Babak Rafati
Die nicht gegebenen Treffer von Regensburg und Verl, das 1:0 für Ulm, die Elfmeter für Unterhaching und Bielefeld, das Tor für Sandhausen, die nicht gegebenen Elfmeter für Dresden, Lübeck und Aue, das 2:1 für Lübeck sowie Foulspiele von Stiefler, Fuchs und Eisfeld. Am 21. Spieltag hat sich Ex-FIFA-Schiedsrichter Babak Rafati für liga3-online.de 13 strittige Szenen genauer angeschaut.
Hintergrund: Babak Rafati war viele Jahre Bundesliga- & FIFA-Schiedsrichter. Insgesamt leitete der heute 53-Jährige 84 Erst-, 102 Zweit-, 13 Drittliga- und zahlreiche internationale Spiele. Exklusiv für liga3-online.de analysiert der erfahrene Schiedsrichter seit März 2015 jeden Spieltag die strittigen Szenen, die durch die Redaktion im Vorfeld ausgewählt werden. Zudem ist er Kolumnist und TV-Experte für Bundesliga-Spiele. Im Hauptberuf arbeitet Rafati heute als Mentalcoach für Profifußballer und Manager und ist ein viel gefragter Referent in der freien Wirtschaft, unter anderem bei DAX-Unternehmen zum Thema Stressmanagement und Motivation. Mehr Infos unter babak-rafati.de.
Szene 1: Noah Ganaus trifft zum 1:0 für Regensburg, soll dabei aber im Abseits gestanden haben, sodass der Treffer von Schiedsrichter Dr. Robin Braun nicht anerkannt wird. [TV-Bilder – ab Minute 0:25]
Babak Rafati: Ein Regensburger Spieler passt den Ball von der rechten Strafraumseite zurück zu einem Mitspieler und gerät dabei über die Torlinie. Dadurch wird er bei der späteren Abseitsbewertung nicht mehr mit einbezogen, weil er draußen bleibt. Nunmehr schießt ein Mitspieler den Ball auf das Tor. Zu diesem Zeitpunkt sind zwei Verteidiger (Torwart wird regeltechnisch als Verteidiger gezählt) näher zur eigenen Torlinie als Ganaus, der den Ball bekommt und anschließend im zweiten Versuch im Tor unterbringt, wobei nur die erste Situation maßgeblich ist. Somit steht Ganaus nicht in Abseitsposition, sodass der Treffer hätte zählen müssen. Man sieht auch, dass der Assistent sehr zögerlich winkt und sich selbst nicht sicher ist. Eine Fehlentscheidung schlussendlich, die Fahne zu heben und diesen Treffer zu annullieren.
Szene 2: Nach einer Ecke drückt Maximilian Wolfram den Ball zum 2:1 für Verl über die Linie, allerdings gibt Braun den Treffer nicht. [TV-Bilder – ab Minute 2:45]
Babak Rafati: Wolfram schießt den Ball ins Tor, und der Torhüter kann den Ball erst hinter der Torlinie mit der linken Hand klären und herausschlagen. Man sieht sehr gut, dass der linke Fuß des Torhüters klar hinter der Torlinie ist. Die linke Hand ist sogar etwas weiter als der linke Fuß hinter der Torlinie, sodass eine Fehlentscheidung vorliegt, diesen Treffer nicht zu geben. Der Assistent hat an sich freie Sicht und steht auch in der Nähe der Eckfahne, sodass er eigentlich dieses Tor zweifelsfrei erkennen muss.
Szene 3: Im Mittelfeld verliert Patrick Hobsch (Unterhaching) gegen Philipp Strompf (Ulm) den Ball und bleibt liegen. Das Spiel läuft weiter, aus dem Angriff fällt das 1:0. [TV-Bilder – ab Minute 35:40]
Babak Rafati: Bei diesem Zweikampf im Mittelfeld spielt Strompf zuerst den Ball und streift unmittelbar danach noch im gleichen Bewegungsablauf zum Ball auch Hobsch am Fuß. In dieser Szene weiterspielen zu lassen, ist vertretbar, da der Treffer zwar schmerzhaft ist, jedoch der Ball Spielobjekt ist und somit kein Foulspiel vorliegt. Eine richtige Entscheidung, weiterspielen zu lassen und den anschließenden Treffer anzuerkennen.
Szene 4: Der bereits verwarnte Manuel Stiefler (Unterhaching) begeht im Mittelfeld ein taktisches Foulspiel an Dennis Chessa (Ulm). Jedoch entscheidet der Schiedsrichter auf Vorteil und pfeift das Foul nicht. [TV-Bilder – ab Minute 1:58:15]
Babak Rafati: Dieses Foulspiel vom bereits gelb-verwarnten Stiefler ist abstrakt betrachtet eine ganz klare gelbe Karte. Allerdings gibt es in diesem Fall die Regel, dass wenn ein Foulspiel begangen wird, bei dem ein aussichtsreicher Angriff unterbunden wird und der Schiedsrichter Vorteil anwendet, anschließend eine sogenannte „Rabattierung“ folgt, was in dieser Szene bedeutet, dass keine gelbe Karte mehr gezeigt wird. Somit liegt eine richtige Entscheidung vor, den bereits gelb-verwarnten Stiefler nicht mit einer Ampelkarte vom Platz zu stellen. Hinweis: Wenn statt eines aussichtsreichen Angriffs eine klare Torchance vereitelt wird (Notbremse) und der Schiedsrichter ebenfalls Vorteil gewährt, erfolgt ebenso die „Rabattierung“ von der roten auf die gelbe Karte. Das sind zwei Ausnahmeregelungen bei der Vorteilsanwendung durch den Schiedsrichter.
Szene 5: Im Strafraum geht Patrick Hobsch (Unterhaching) im Duell mit Bastian Allgeier (Ulm) zu Fall, es gibt Elfmeter. Als dieser dann ausgeführt wird, steht Keeper Ortag mit beiden Füßen vor der Linie. [TV-Bilder – ab Minute 2:06:00]
Babak Rafati: Wenn der Ball beim Elfmeter gespielt wird, muss sich der Torhüter mindestens mit einem Teil eines Fußes auf, über oder hinter der Torlinie befinden. In diesem Fall verstößt Keeper Ortag gegen diese Regel, weil er mit beiden Füßen vor der Torlinie steht, sodass der Elfmeter hätte wiederholt und der Keeper ermahnt werden müssen. Somit liegt eine Fehlentscheidung vor, weiterspielen zu lassen. Dieses Vergehen kann nur der Assistent mit Seitenansicht erkennen. Beim Zweikampf, der zuvor zum Elfmeter führte, liegt zudem auch eine Fehlentscheidung vor, da der Verteidiger zwar energisch mit Körper und Arm im Oberkörperbereich zu Werke geht, allerdings ist dieser Einsatz regelgerecht kein Foulspiel.
Szene 6: Bei einem Konter steht Markus Pink (Sandhausen) im Mittelkreis passiv im Abseits, läuft anschließend Richtung Tor und trifft. Schiedsrichter Tobias Reichel gibt den Treffer. [TV-Bilder – ab Minute 1:20]
Babak Rafati: Beim Zuspiel auf die linke Seite steht Pink in der Mitte in passiver Abseitsposition, da er nicht ins Spielgeschehen eingreift. Als anschließend der Ball von der linken Seite zu ihm gelangt, entsteht eine neue Spielsituation, sodass die passive Abseitsposition zuvor nicht relevant ist. Daher ist durch das Abspiel von der linken Seite die Abseitsposition neu zu bewerten, und hierbei steht Pink nicht in Abseitsposition, sodass eine richtige Entscheidung vorliegt, den Treffer anzuerkennen.
Szene 7: Tom Zimmerschied (Dresden) geht im Strafraum gegen Milan Zander (Sandhausen) zu Fall und fordert Elfmeter, den Reichel jedoch nicht gibt. [TV-Bilder – ab Minute 1:43:50]
Babak Rafati: Bei diesem Zweikampf will Zander womöglich den Ball spielen und klären, zieht aber im letzten Moment gegen Zimmerschied den Fuß zurück, um ein mögliches Foulspiel zu verhindern. Zimmerschied wiederum tickt den Ball kurz an und lässt sich theatralisch fallen. Somit liegt kein Foulspiel vor, zumal noch nicht einmal ein Kontakt zustande kommt. Eine richtige Entscheidung, nicht auf Elfmeter zu entscheiden. Es wäre optimal, wenn der Schiedsrichter diese klassische Schwalbe entlarvt und mit der gelben Karte sanktioniert hätte. Aber trotzdem Kompliment an den Schiedsrichter, überhaupt zu erkennen, dass kein Foulspiel vorliegt, denn im laufenden Spiel ist das gar nicht so einfach.
Szene 8: Der bereits verwarnte Alexander Fuchs (Sandhausen) steigt rüde gegen Lucas Cueto (Dresden) ein, sieht Gelb-Rot statt glatt Rot. [TV-Bilder – ab Minute 3:10]
Babak Rafati: Bei diesem Zweikampf an der Seitenlinie springt Fuchs mit offener Sohle und gestrecktem Bein von hinten in die Füße von Cueto und räumt ihn komplett ab. Das ist ein rüdes Foulspiel, bei dem die Gesundheit des Gegenspielers gefährdet wird, denn er trifft klar mit dem linken Fuß den Gegenspieler – auch wenn er zudem den Ball mit dem rechten Fuß spielt. Der Einsatz ist nur gegnerorientiert, und das Ballspielen ist eher zufällig. Wenn man so reinspringt und den Gegner voll trifft, trifft man meistens auch in der Bewegungsaktion ein wenig den Ball. Für diesen Einsatz kann es nur die rote Karte geben, sodass die Ampelkarte zu milde ist und somit eine Fehlentscheidung vorliegt.
Szene 9: Im Strafraum geht Tarik Gözüsirin (Lübeck) im Duell mit Fridolin Wagner (Mannheim) zu Boden. Kein Elfmeter, sagt Schiedsrichter Fuchs. [TV-Bilder – ab Minute 26:35]
Babak Rafati: Nach einem langen Ball springt Gözüsirin im Strafraum zum Ball, und es kommt dabei zu einem Zweikampf mit Wagner. Aus der vorliegenden Kameraperspektive ist es nicht zweifelsfrei aufzulösen, aber für mich trifft Wagner tendenziell mit dem linken Bein Gözüsirin in die Beine und bringt ihn dadurch zu Fall. Die optimale Position zum Vergehen hat der Schiedsrichter nicht, denn er steht einfach zu weit vom Geschehen weg und kann daher die Situation nicht zweifelsfrei einsehen. Für mich liegt tendenziell eine Fehlentscheidung vor.
Szene 10: Marcel Seegert (Mannheim) klärt einen Ball vor Mats Facklam (Lübeck), wird anschließend vom Lübecker mit dem Knie auf Brusthöhe getroffen und bleibt liegen. Schiedsrichter Nico Fuchs lässt weiterlaufen, und aus dem Angriff fällt das 2:1 für den VfB. [TV-Bilder – ab Minute 3:40]
Babak Rafati: Facklam legt sich den Ball etwas zu weit vor, und Seegert spitzelt fast am Boden liegend den Ball weg. Danach kommt es zu einem Zusammenprall, allerdings wäre das eher ein Foulspiel von Seegert an Facklam, wenn nicht zuerst der Ball weggespielt wäre, sodass dieser Zusammenprall kein Foulspiel des Angreifers ist. Der Angreifer kann auch kaum ausweichen, weil er in der Vorwärtsbewegung ist und der anschließende Kontakt vom Verteidiger verursacht wird. Eine richtige Entscheidung, in dieser Szene weiterspielen zu lassen und den anschließenden Treffer anzuerkennen. Sicherlich wird es den Kontakt an der Brust des Verteidigers mit dem Knie des Angreifers gegeben haben, aber wie oben beschrieben stellt das kein Foulspiel, vielmehr einen unglücklichen beziehungsweise verursachten Zweikampf durch den Verteidiger dar.
Szene 11: Auf dem Weg zum Tor kommt Nassim Boujellab (Bielefeld) im Strafraum bei einem Duell mit Benjamin Böckele (Münster) zu Fall, es gibt Elfmeter für Bielefeld. [TV-Bilder – ab Minute 0:50]
Babak Rafati: Böckele will im Strafraum im Zweikampf den Ball spielen, verfehlt das Spielgerät aber mit dem ausgestreckten Bein. Boujellab wiederum holt zum Schuss aus, und es kommt zum Kontakt mit dem ausgestreckten Bein des Verteidigers, der das Bein zwischen Ball und Fuß des Angreifers gestellt hat, sodass der Angreifer nicht mehr mit der gewünschten Dynamik zum Ball kann, diesen ebenso verfehlt und schließlich außer Balance gerät und zu Fall kommt. Dieser Kontakt ist ein Foulspiel, und somit liegt eine richtige Entscheidung vor, auf Elfmeter zu entscheiden.
Szene 12: Auf dem Weg in Richtung Tor geht Omar Sijaric (Aue) gegen José-Enrique Ríos Alonso (Essen) im Strafraum zu Fall. Kein Elfmeter, entscheidet Schiedsrichter Florian Exner. [TV-Bilder – ab Minute 49:40]
Babak Rafati: Bei diesem Zweikampf nimmt Rios Alonso den Arm heraus und hält seinen Gegenspieler Sijaric vom Ball weg. Das ist kein Stoßen oder Ähnliches, sodass nicht von einem regelwidrigen Einsatz die Rede sein kann. Diese Art der Zweikampfführung ist erlaubt und von den Akteuren auch gewollt. Somit liegt eine richtige Entscheidung vor. Wenn dieser Zweikampf andersherum passieren würde, Angreifer gegen Verteidiger, was oft bei Eckstößen der Fall ist, würde man auch nicht pfeifen. In den ersten drei Profiligen hierzulande wird im Vergleich zu den anderen europäischen Ligen immer noch zu kleinlich gepfiffen. Ich bin davon überzeugt, dass ab der nächsten Saison die Zweikämpfe großzügiger ausgelegt werden, da der ehemalige Top-Schiedsrichter Knut Kircher die Führung übernimmt. Er war seinerzeit bekannt dafür, dass er sehr großzügig amtierte. Das wird allen Beteiligten in die Karten spielen, wenn es auch umgesetzt und praktiziert wird.
Szene 13: Im Zweikampf mit Marvin Stefaniak (Aue) rutscht Thomas Eisfeld (Essen) weg, trifft ihn dabei und sieht Gelb. [TV-Bilder – ab Minute 2:07:55]
Babak Rafati: Bei diesem Zweikampf rutscht Eisfeld aus und trifft Stefaniak unglücklich am Bein. Dabei ist der Blick von Stefaniak nicht einmal zum Gegenspieler gerichtet, sondern zum Ball. Hier auf Foulspiel zu entscheiden, ist in Ordnung, aber nicht mehr. Der Schiedsrichter lässt erst weiterspielen und signalisiert Vorteil. Nachdem der Ball ins Seitenaus befördert wurde, geht er zum Tatort. Als er in das schmerzverzerrte Gesicht von Stefaniak schaut, zeigt er Eisfeld die gelbe Karte. Auch wenn Eisfeld viel Anstand hat, diese gelbe Karte akzeptiert und sich vielmehr um seinen Gegenspieler kümmern will, ist diese Aktion unglücklich und nicht rücksichtslos, die mit einer gelben Karte geahndet werden muss. Somit ist die gelbe Karte eine Fehlentscheidung.
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