Analyse: Wo Rot-Weiss Essen zum Jahreswechsel steht
Noch zweieinhalb Wochen, dann startet die 3. Liga als erste deutsche Profiklasse ins Jahr 2023. Für Rot-Weiss Essen kam die lange Winterpause zur Unzeit, RWE zeigte sich im Spätherbst bestens aufgelegt. Sieben Partien ohne Niederlage zum Jahresabschluss – und was wird für den Aufsteiger folgen? Wir blicken in einer kurzen Analyse auf die Ausgangslage.
Die Bilanz
Mittlerweile kann man über den verhunzten Start in die Saison wohl schmunzeln. Die 1:5-Abfuhr gegen Elversberg schmerzte, die ersten sechs Spieltage ohne einen einzigen Sieg auch. RWE war da, wo ein Aufsteiger normalerweise hingehört – und am Tabellenende doch recht weit entfernt von den ambitionierten Ansprüchen. Mit dem 2:1-Arbeitssieg über Aue kam die Mannschaft vom bis dahin schon arg unter Druck stehenden Trainer Christoph Dabrowski so richtig in der 3. Liga an.
Die Bilanz seit dem 7. Spieltag: fünf Siege, vier Remis und nur noch zwei Niederlagen – zumindest in dieser Zeitspanne punktete Essen also schon wie ein Team aus dem oberen Tabellendrittel. Durchaus überraschend ist dabei, dass der Liganeuling zuletzt seine Auswärtsbilanz kräftig aufpolierte, mit zwei von acht möglichen Heimsiegen im stets stimmungsvollen Stadion an der Hafenstraße aber noch reichlich Potenzial schlummert.
Der Kader
Vielleicht hatte Rot-Weiss die Qualität seines Teams zu Saisonbeginn leicht überschätzt. Zumindest im Mittelfeld als Herzstück der Mannschaft brauchte es mit Felix Götze noch einen späten Königstransfer auf der Acht, um RWE zu stabilisieren – Götze kompensierte unter anderem den langen Ausfall Thomas Eisfelds. Auch Niklas Tarnat ist als noch etwas defensiverer Part zu einer festen Größe geworden. In der Abwehr hat sich Kapitän Daniel Heber nach anfänglichen Problemen bemerkenswert entwickelt, für den bundesliga-erfahrenen Routinier Felix Bastians war der Sprung auf Drittliga-Niveau ein Klacks – er ist mit fünf Treffern (drei Kopfbälle, zwei Strafstöße) als Linksverteidiger zusammen mit Ron Berlinski sogar interner Top-Torjäger. Torwart Jakob Golz ist ein noch nicht völlig fehlerloser, aber solider Drittliga-Torwart geworden.
Und in der Abteilung Offensive? 24 Tore aus 17 Spielen sind ein solider Wert, zumal sie ohne einen echten Knipser gelangen. Neben Bastians kommt nur Neuzugang Ron Berlinski als Typ arbeitender Stürmer auf fünf Tore, Regionalliga-Torjäger Simon Engelmann verzeichnete vier Treffer, ehe ihn ein Sehnenanriss nach elf Spieltagen stoppte. Essen ist noch auf der Suche nach einem Neuner, daher zeigte sich zuletzt in Tobias Warschewski ein Testspieler über längere Zeit. Weniger zu tun ist auf den Flügeln: Hannover-Leihgabe Lawrence Ennali und Isaiah Young bringen enormes Tempo und viel Spielfreude mit – und beide warten noch auf den endgültigen Durchbruch. Da der gesamte Kader 26 Feldspieler umfasst, sind auch Trennungen denkbar: Michel Niemeyer, Sascha Voelcke, Sandro Plechaty, Erolind Krasniqi, Kevin Holzweiler und Luca Wollschläger hatten bis dato die geringsten Spielanteile.
Das Umfeld
Für die RWE-Profis, die dem Verein schon seit einigen Jahren treu sind, muss sich die bisherige Saison wunderbar leicht angefühlt haben: Trotz des Fehlstars übten sich die Fans in Zurückhaltung und schlugen besänftigende Töne an, seit der Kehrtwende ist die Saison stimmungstechnisch ein Selbstläufer. Ganz anders als in den vielen Spielzeiten zuvor, in denen Essen stets zum Aufstieg verdammt war und der Anhang seine Idole dies auch spüren ließ.
Die Rolle, nach zehn Jahren auch mal wieder als Außenseiter zu Spielen wie etwa bei 1860 München zu fahren, bekommt dem Verein gut. Über die zahlenmäßige Unterstützung gibt es keine zwei Meinungen: Rund 16.000 Fans besuchen die Heimspiele im Schnitt, nur Dynamo Dresden versammelt mehr Menschen hinter sich. Im Auswärtsfahrer-Ranking ist Essen mit 2.335 Mitfahrern pro Partie sogar Tabellenerster. Hut ab.
Die Erwartungen
So schön die vergangenen Monate waren, so präzise lässt sich die Uhr danach stellen, dass Rot-Weiss Essen von den eigenen Ambitionen eingeholt wird. Mittelfristig strebt der Verein in die 2. Bundesliga, atmosphärisch ist er auf diesem Niveau ja längst angekommen. Doch das allein genügt nicht, es braucht weiteres organisches Wachstum, professionelle Strukturen in möglichst allen Ecken und Winkeln. Der zweite Schritt lässt sich schwer vor dem ersten machen, dessen müssen sich Fans und Unterstützer bewusst werden, wenn es ab 2023 um die Definition anderer Ziele geht.
Platz 13 steht als Momentaufnahme, das könnte schon im Mai manchem zu wenig sein. Und spätestens in der nächsten Saison kämen dann die Träume vom oberen Drittel, dann rücken Vereine wie Saarbrücken, Wiesbaden und Mannheim in den Fokus. Dass die 3. Liga ein so geringes Leistungsgefälle aufweist, ist dabei Chance und Risiko zugleich. Denn wie schnell haben wir Vereine schon abstürzen sehen…
Die Prognose
Vom Kader und der finanziellen Deckung über die Infrastruktur bis hin zum Anhang ist Rot-Weiss Essen voll angekommen in der 3. Liga, in manchen Kategorien sogar schon ein Spitzenteam. Sportlich fehlen bis dahin noch ein, zwei Schritte. Allemal darf als Zeichen gewertet werden, wie schwer sich etliche namhafte Drittligisten im Spätherbst taten, gegen die Mannen vom Niederrhein zu gewinnen. Holt Rot-Weiss Essen im Winter noch wenige gezielte Verstärkungen, so spricht nichts dagegen, dass sich der Aufwärtstrend noch einige Weile fortführt und Ende Mai mindestens ein solider Mittelfeldrang zu Buche steht. Läuft alles gut, fällt die Endplatzierung einstellig aus.