Aufstiegsfluch: Rot-Weiss Essen droht die nächste Ehrenrunde
Kaum einen Verein wünschen sich so viele Fans quer durch Deutschland nach langjähriger Abstinenz so sehr zurück auf der deutschlandweiten Ebene wie Rot-Weiss Essen. Doch all die Sympathie nützt wenig: RWE ist einmal mehr auf bestem Wege, eine starke Ausgangslage zu verspielen. Woran scheitert man im Norden der Ruhrmetropole diesmal?
Der verhängnisvolle Tag vor 13 Jahren
Es existieren nicht mehr als Erinnerungen an den letzten Drittliga-Tag von Rot-Weiss Essen, den 31. Mai 2008. Nicht einmal mehr die Spielstätte, das altehrwürdige Georg-Melches-Stadion, steht noch – ein Flutlichtmast zeugt heute noch davon. Die Geschichte, die dieser Samstag schrieb, passt so gut zum Klub, zu seiner Leidensfähigkeit, seiner Emotionalität. Eine gewisse 3. Liga steht in jenem Frühsommer in den Startlöchern, ein faszinierendes Projekt, die Zusammenführung der ausgedienten Regionalliga-Staffeln Nord und Süd, acht Teilnehmer stellen beide Staffeln, dazu kommen ein letztes Mal vier Absteiger aus der 2. Bundesliga. Für RWE ist die Liga vor der Saison ein Minimalziel, Essen kommt ja just aus dieser zweiten Liga, ist Absteiger und Topfavorit zugleich. Was Dynamo Dresden in der Gegenwart darstellt, diese Rolle kam damals den Mannen von der Emscher zu.
Doch Essen holpert und stolpert durchs Jahr, vergeigt den Start, tastet sich dann langsam an die Spitzengruppe heran, um in der Rückrunde doch wieder zu enttäuschen. Aber: Gegen einen insolventen und längst abgestiegenen VfB Lübeck reicht zum Saisonfinale ein Sieg, den nun wirklich jeder erwartet, um sich doch noch Platz 10 und wenigstens die 3. Liga zu sichern. 18.000 Zuschauer werden Zeugen eines Traumas: "Ohne Konzept", so schrieb es der Kicker damals, rennt RWE 90 Minuten lang verzweifelt an, kassiert dafür in der 88. Minute das 0:1. Minuten der Schockstarre, dann der Abpfiff, ein Platzsturm. Essener Fans bauen sich vor den wenigen Gästefans auf, der Frust muss raus, eine Eskalation kann verhindert werden. Der letzte Moment Drittklassigkeit bis zum heutigen Tag ist ein ganz düsterer.
Unter Neidhart lange famos
Warum der lange Vorbau? Weil RWE dieses Image Jahr für Jahr verteidigt hat. Widerspenstig kämpfte man sich im Ruhrgebiet, diesem Epizentrum ehrlichen Arbeiterfußballs, durch eine Insolvenz, ein Jahr fünfte Liga. Mit der Rückkehr 2011 war RWE ganz schnell wieder im oberen Drittel, nicht nur tabellarisch, sondern allen voran nach finanziellen Möglichkeiten. Doch in den meisten Fällen verlor Essen trotz allem schon früh in der Saison den Anschluss gegen Klubs wie Fortuna Köln, Sportfreunde Lotte, Viktoria Köln. 2015 verspielte Essen seine erste Herbstmeisterschaft kläglich, 2020 waren in Rödinghausen und Aufsteiger Verl zwei ostwestfälische Rivalen schlicht noch stärker.
Jetzt sollte es aber doch klappen. In der Saison 2020/21 schien vieles bereitet, allen voran durch Trainer Christian Neidhart, lange erfolgreich beim SV Meppen, ein echter Drittligaexperte und Fußballfachmann. Selbst jetzt, wo Essen auf bestem Wege ist, ein weiteres Aufstiegsrennen zu verspielen, hütet man sich davor, seine Kompetenzen anzuzweifeln. Warum auch? 15 Siege und fünf Unentschieden holte er in der Mammut-Hinrunde dieser Regionalliga-West-Episode, in der 42 (!) Spieltage anstehen, seine Spieler erzielten sagenhafte 46:12 Tore – und das ganz ohne die 10.000 frenetischen Fans, die sonst die Hafenstraße im Essener Norden bevölkern würden. Nur die Reserve von Borussia Dortmund – gäbe es einen besseren Antagonisten für dieses Drehbuch als eine von vielen geächtete zweite Mannschaft? – hielt dieses Tempo mit. Und drückte im Gegensatz zu RWE auch in der Rückserie bislang weiter aufs Gaspedal.
Aufstieg und Fan-Rückkehr: Was würde das passen!
Rot-Weiss aber nicht. Hydraulik? Getriebe? Zündkerze? Irgendwas ist defekt, lässt den Motor stottern – und das just seitdem Essen im Februar drei Wochen spielfrei hatte, nachdem das Pokal-Viertelfinale gegen Leverkusen und der anschließende, heftige Wintereinbruch dem mittlerweile ausgetauschten Rasen den Rest gegeben hatten. Starke Gegner zwangen Essen mit Glück und Geschick in die Knie, 0:3 hieß es bei Düsseldorf II, 0:1 beim Ex-Drittligisten Preußen Münster. Dazwischen das Pokal-Aus gegen Kiel (0:3), drei Englische Wochen binnen kurzer Zeit – und die Folge war gravierend. Eine 1:2-Niederlage beim damaligen Schlusslicht Rot Weiss Ahlen kostete RWE den Anschluss. Jüngst gab es obendrauf beim 1:1-Remis im Derby gegen Oberhausen als "Sahnehäubchen" den Gegentreffer spät in der Nachspielzeit, per Elfmeter, der unglücklich unter Torwart Daniel Davari durchrutschte. Zeitgleich gewann – natürlich – Kontrahent Dortmund sein Auswärtsspiel. Die Dynamik im Aufstiegskampf ist so brutal wie eindeutig.
Hello again! Alles läuft wie immer – und RWE vergeigt’s. Irgendwo zwischen unterdrückter Trauer und bitterem Sarkasmus bewegt sich der geneigte Essener Fan dieser Tage. Immer noch stehen fantastische 62 Punkte aus 29 Spielen auf der Uhr, und doch reicht es möglicherweise nicht: Dortmund hat neun (!) Zähler mehr auf dem Konto, dazu das bessere Torverhältnis – selbst das eine Nachholspiel tröstet kaum: Vier durchwachsene Wochen könnten die ganze Saison kosten. Bekommt Essen nicht ganz schnell die Kurve und holt so gut wie alle Siege im elf Spiele andauernden Endspiel bei zeitgleichen Dortmunder Patzern, warten statt Duisburg, Mannheim und 1860 München eben wieder die Dorftouren nach Wiedenbrück, Straelen und Lotte. Man gewöhnt sich dran in Essen, und doch träumt mancher laut vor sich hin, von einem Ende der Corona-Pandemie, einem zeitgleichen Aufstieg – und einer stimmgewaltigen Fan-Rückkehr in der 3. Liga. Was würde das passen! Und eine Restchance ist ja noch da.
The same procedure…
Andernfalls heißt es im nächsten Jahr: neue Saison, neues Glück. Mitsamt der Millionen, die Essen durch das Pokal-Viertelfinale im Gegensatz zu den finanziell durch Corona noch stärker gebeutelten Kontrahenten einnehmen konnte, und weiterhin potenter Sponsorenschaft würde RWE dann nochmal mehr Topfavorit sein als in diesem Jahr. Geht das überhaupt noch, fragt sich mancher Konkurrent, der mit einem Bruchteil des Etats in den Wettbewerb tritt. Doch im Stolpern sind die Westdeutschen nun einmal genauso erfolgreich wie im Schüren von Hoffnungen. Ein längst verstorbener, brillanter Schauspieler, der für sein Stolpern als trotteliger Butler über einen Tigerkopf Berühmtheit erlangte, würde dazu wohl sagen: The same procedure as every year.