Aufstiegskandidaten: Essen sehnt die 3. Liga herbei
Zur Abwechslung mal ein potenzieller Aufsteiger ohne Stadionproblem: Rot-Weiss Essen wird bereits seit zwölf Jahren auf der überregionalen Fußballbühne schmerzlich vermisst. Dieses Jahr ist RWE nah dran an der 3. Liga, und durch das Corona-Virus doch weit entfernt. Auch ein Alleingang innerhalb der Regionalliga West dürfte Essen wenig nützen.
10.900 Zuschauer pro Spiel in der Regionalliga
An der Hafenstraße, RWE. Wer Fußball nicht nur des Fußballs wegen schaut, sondern wegen der Atmosphäre, des besonderen Flairs rund um die Spiele, seiner Authentizität, der kann sich nur einen Aufstieg von Rot-Weiss Essen, eine Rückkehr auf nationale Ebene wünschen. 2008 war Essen zuletzt drittklassig, 2007 zuletzt zweitklassig und seit 1977 nicht mehr in der Bundesliga gesehen. Seine Fans, die aus Holsterhausen, Bergeborbeck und Karnap ins Stadion Essen, früher Georg-Melches-Stadion pilgern, nehmen es dem Klub nicht übel. RWE, das ist ihr Lebensinhalt. Sechs- bis siebentausend Fans kamen in diesem Jahrtausend eigentlich immer. Auch gegen Bergisch Gladbach, gegen Hüls, Kaan-Marienborn und Straelen. Der Gegner ist zweitrangig, wenn RWE spielt. Außer, es ist Schalke 04. In der laufenden Saison liegt der Zuschauerschnitt bei 10.900. Was für eine beeindruckende Zahl. Kein anderer Viertligist lockt mehr Fans an.
Rot-Weiss Essen bleibt eine Marke im Ruhrpott. Da konnten der MSV Duisburg und der VfL Bochum noch so viele Ligen über RWE spielen – die heimliche Nummer drei hinter dem BVB und Schalke 04 bleibt zwischen Emscher und Rhein rot-weiß. Treue wird großgeschrieben zwischen Rüttenscheid und Kray, Tradition verpflichtet. Das gilt auch für die Stadt. Fast 600.000 Einwohner leben in Essen, viele haben einen Lebenswandel hinter sich: Die Zechen, die den Wohlstand brachten, sind dicht. Eine neue Wirtschaftskraft hat sich im Zentrum entwickelt, Bürotürme schmücken die Skyline, DAX-Konzerne haben ihre Headquarter errichtet. 2010 wurde Essen stellvertretend für das Ruhrgebiet als Kulturhauptstadt ernannt, der Bevölkerungsrückgang ist vorerst gestoppt. Junge Menschen flüchten nicht mehr nach Düsseldorf, Köln, Berlin. Der Ruhrpott wird hip. RWE auch?
Enttäuschende sportliche Bilanz
Jein. Und das macht den Klub besonders. Er holt alle Menschen ab. Auch die, die nicht von der neuen Wirtschaftskraft profitieren. Nicht wenige Stadtteile sind kleine oder größere soziale Brennpunkte, die Arbeitslosigkeit ist stellenweise fast doppelt so hoch wie im Durchschnitt des Landes Nordrhein-Westfalen. Im Stadion wird darüber nicht gesprochen, es gibt keine abschätzigen Blicke. Rot-Weiss verbindet, die gemeinsame Freude, in der jüngeren Vergangenheit aber auch der Frust über mangelnde sportliche Konstanz. So verwundert es nicht, dass die Bierstände in Essen angeblich den höchsten Pro-Kopf-Umsatz aller deutschen Fankurven erlösen. Schon Kommentator Manni Breuckmann, selbst Kind des Ruhrgebiets, hatte einmal nüchtern festgestellt: "Stell dir vor, du bist RWE-Fan. Da kannst du jeden Tag nur noch saufen." Selbst der Tod scheidet Essener nicht: Im Stadtteil Bergeborbeck wird seit 2019 ein eigener Fanfriedhof unterhalten.
Allein die Zuschauereinnahmen könnten einen mehr als ordentlichen Regionalliga-Kader finanzieren, dazu kommen eine ordentliche Sponsorenlandschaft und seit Anfang 2019 in Sascha Peljhan, Gründer der Modemarke "Naketano", ein vermögender RWE-Fan als Investor. Umso enttäuschender ist die sportliche Bilanz: In zehn Jahren Regionalliga schaffte es Essen trotz des hohen Etats nicht einmal unter die Top drei der Liga. Stets waren Klubs wie Viktoria Köln, die Sportfreunde Lotte oder nun der SV Rödinghausen schlicht stärker. 2010 stellte der Klub dabei einen Insolvenzantrag, musste für ein Jahr in die fünftklassige NRW-Liga – stieg aber direkt wieder auf. Seitdem: Stagnation, und das trotz hochmoderner, 20.000 Zuschauer fassender Arena. Schon ein Aufstieg, hofft die Anhängerschaft, könnte den berühmten Stein ins Rollen bringen, durch das Potenzial seines Umfelds müsste Essen problemlos einen Platz in den ersten beiden Ligen finden. Doch selten wurde einem schlafenden Riesen ein derart gut wirkendes Hypnotikum eingeflößt.
Diese Saison war auf gutem Weg, die beste seit sieben Jahren zu werden: Damals holte RWE starke 66 Punkte, wurde Vierter – und doch fehlten damals 20 (!) Punkte auf den Ersten aus Lotte. Als aktueller Dritter ist RWE nah dran am möglichen Aufstiegsrang, der erst durch eine Relegation mit dem Sieger der Nordost-Staffel tatsächlich in die 3. Liga führt. Weil Rödinghausen als klarer Spitzenreiter nicht aufsteigen will, ist der SC Verl als Zweiter das Maß der Dinge. In die Unterbrechung ging Verl mit zwei Punkten Vorsprung, aber auch zwei Nachholspielen in der Hinterhand.
RWE stimmt gegen Saisonabbruch
Während sich die Drittligisten beim Thema Saisonfortsetzung völlig uneinig sind, gibt es in den übrigen Fußballligen klare Mehrheitsmeinungen: Die Bundesligen wollen geschlossen weitermachen, alles unterhalb von Liga 3 präferiert in der Regel den Saisonabbruch. Auch die Regionalliga West hat zuletzt eindeutige Rückmeldungen von den Teilnehmern erhalten: Gleich 16 der 18 Vereine sprachen sich für ein Saisonende aus, einer enthielt sich. RWE stimmte dagegen, allein gegen alle, ein aussichtsloses Entgegenstemmen und doch ein Zeichen. Geschäftsführer Marcus Uhlig, der bereits eine zweigleisige 3. Liga ins Gespräch brachte, will das frühzeitige Ende der Spielzeit nicht akzeptieren. Warum, das erklärte Uhlig zuletzt ausführlich im Interview mit unserer Redaktion. Doch seine Erfolgschancen sind gering.
Wie sich das Coronavirus auf die RWE-Zukunft auswirkt, ist noch nicht absehbar. Gegenwärtig befinden sich auch die Kicker in Kurzarbeit: Spieler wie Hamdi Dahmani, Dennis Grote, Oguzhan Kefkir und José Matuwila sind in der 3. Liga wohlbekannt. Auch in der Regionalliga bedient sich Essen auf dem Transfermarkt vorrangig bei absoluten Leistungsträgern anderer Klubs – als Viertligist arbeitet Essen hochprofessionell, aber auch mit ordentlichem Aufwand. Doch auch in der Krise können sich die Westdeutschen auf das hohe Engagement ihrer Fans verlassen: Mehr als 100.000 Euro wurden durch symbolische Verkäufe eines virtuellen Heimspiels erlöst, weitere Aktionen rollen gerade an. Im Hintergrund muss derweil – den neunten Nichtaufstieg am Stück einkalkulierend – die Planung für den nächsten Anlauf auf die 3. Liga in der Saison 2020/21 beginnen. So viel Geduld Sympathisanten von Rot-Weiss Essen dieser Jahre auch brauchen: Irgendwann, da legen wir uns fest, wird die Rückkehr in den "bezahlten Fußball" gelingen.
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