Sieben Tore! Ein irres Ostderby als Achterbahn der Gefühle
Der Schlusspfiff ging im kollektiven Jubelschrei unter. Während Toni Lindenhahn und Pierre Merkel über den Rasen kullerten und Sven Köhler gar nicht wusste, wen er zuerst herzen sollte, bemühte sich keiner der Rostocker Spieler mehr, sich noch zum Anstoßpunkt zu bewegen. Innerhalb eines Augenblicks, mit einem einzigen Schuss, brach der HFC den Rostockern den zuletzt arg geschundenen Rücken und bewies dabei eine einzigartige Moral. Selbst verschiedenste Rückschläge im Laufe des Spiels, verpasste Chancen, zwei Elfmeterpfiffe, von denen zumindest einer strittig war, brachten die Hallenser nicht zur Aufgabe und so siegten die Saalestädter am Ende nicht nur spielerisch, sondern auch im Kopf gegen völlig verstörte Rostocker.
Savran völlig unsichtbar
Der HFC begann, in Anbetracht der unklaren taktischen Situation des Gegners, mit einem etwas defensiveren 4-3-3. Vor allem Gogia und Kruse wurden dabei in die Tiefe gezogen, Kruse konzentrierte sich völlig auf die Defensive, während Gogia dessen Strategen-Aufgaben aus der Tiefe übernahm. Dafür orientierten sich vor allem die Flügelstürmer Sören Bertram und Francky Sembolo immer wieder gefährlich in die Mitte, in der Timo Furuholm die Bälle gekonnt auf seine Teamkollegen ablegte. Gerade der Defensivschachzug mit einem Stabilisator vor der Abwehr erwies sich als kluger Plan Köhlers, denn die Hanseaten setzten ihrerseits unter Interimstrainer Robert Roelofsen auf eine umfangreich rochierende Dreierreihe um Julian Jakobs, Manfred Starke und David Blacha, von denen jeder sowohl auf beiden Flügeln als auch in der Zentrale zu finden war. Kruse, sein ab der 15. Minute verletzungsbedingter Ersatzmann Nicklas Brandt und die Tatsache, dass die Rostocker in dieser Spielweise nach knapp zwei Trainingseinheiten noch völlig uneingespielt waren, sorgten allerdings dafür, dass beispielsweise Stürmer Halil Savran, abgesehen von seinen beiden Elfmetertreffern und umfangreichem Lamentieren beim Schiedsrichter, völlig unsichtbar blieb.
Ziebig stümperhaft gegen Starke
Das Spiel begann zunächst fahrig. Während der HFC wie so oft in der letzten Zeit abwartend agierte, war den Gästen die Verunsicherung der letzten Tage doch deutlich anzumerken. Die defensive Viererkette der Rostocker, bestehend aus zwei Mittelfeldspielern (Mendy und Weidlich) und zwei Talenten (Pägelow und Krauße), musste sich immer wieder neu sortieren und so erkannte der HFC schon bald die Chance in diesem Spiel und zog das Tempo, vor allem mit Sören Bertram und Björn Ziegenbein an. Die Hallenser pressten zwischenzeitlich bereits in der gegnerischen Hälfte und kamen so immer wieder zu gefährlichen Umschaltsituationen, die der F.C.H. vor allem in Person von Jörg Hahnel oft in letzter Sekunde noch sichern konnte. Hansa brauchte 20 Minuten, um wenigstens einmal aus dem Spiel heraus in Tornähe des HFC zu gelangen, Mendys Flanke konnte HFC-Torwart Kleinheider aber problemlos entschärfen. Besser machte es Rostocks Torjäger David Blacha, der, wohlgemerkt elf Minuten später, nach großartigem Zuspiel des 17-jährigen Max Christiansen, Kleinheider diesmal zur Glanzparade zwang. Die Hanseaten witterten nun so langsam Morgenluft und starteten einen erneuten Angriff, infolgedessen Daniel Ziebig den startenden Manfred Starke trotz geballter Erfahrung nahezu stümperhaft umriss und Schiedsrichter Daniel Meyer zum Elfmeterpfiff zwang. Halil Savran sorgte damit für das 1:0. Angestachelt vom etwas ungerecht erscheinenden Spielstand drückte der HFC nun wieder und hatte riesiges Pech, dass Jörg Hahnel drei Minuten nach der Führung einen gefährlichen Drehschuss von Francky Sembolo in letzter Sekunde abwehren konnte.
Fragwürdiger Elfmeter für Hansa – Anschluss für Halle
Die zweite Halbzeit begann, wie die erste geendet hatte. Der HFC gab nun Vollgas, drängte auf den Ausgleich und setzte in Person des hochmotivierten Ex-Rostockers Ziegenbein einen Kopfball nur knapp neben das Tor der Hanseaten. Im Gegenzug öffneten sich nun allerdings auch Räume zum Kontern für die Gäste. Einen dieser Räume nutzte Julian Jakobs in der 51. Minute und wurde von Marcel Franke an der Strafraumlinie gelegt. Sämtliche Hallenser plädierten nun leidenschaftlich auf „draußen“, während alle Rostocker erwartungsvoll auf den Elfmeterpunkt zeigten. Zu keiner Situation, weder im Stadion, noch in den Fernsehbildern war klar zu sehen, wo genau Jakobs gelegt wurde, Fakt ist, dass Daniel Meyer nach kurzer Absprache mit seinen Kollegen erneut Elfmeter für Rostock pfiff, erneut verwandelte Halil Savran und Rostock führte ohne eine einzige Großchance gegen den HFC mit 2:0. Nun entfalteten die Hallenser allerdings ihre ganze mentale Stärke, die Stärke, die sie seit der Winterpause vom Abstiegsplatz zum Kandidat für Platz 4 gezaubert hatte. Sembolo, Furuholm und Bertram feuerten als allen Rohren auf das Tor von Jörg Hahnel, der Finne versuchte es sogar mit der Hacke und scheiterte nur knapp, um dann allerdings nur wenige Augenblicke später endlich zum hochverdienten 1:2-Anschlusstreffer einzunetzen. „Tor für den HFC! Wir haben noch Zeit!“ verkündete Halles Stadionsprecher in der Hoffnung auf den späten Ausgleich. Was er und die rund 11.000 Zuschauer im ERDGAS-Sportpark nun aber geboten bekamen, war ein Spiel, für dessen Art Millionen Menschen auf der Welt die Emotionen und die Leidenschaft lieben, die der Fußball bietet.
Das Wunder nimmt seinen Lauf
Der F.C. Hansa nun typisch verunsichert verschanzte sich, wohlgemerkt noch vor der 70. Spielminute, in der eigenen Hälfte. Beide Teams kämpften um jeden Ball, was zwischenzeitlich viele Nickligkeiten zur Folge hatte. Doch der HFC drückte und Hansa sah sich de Druck spätestens in der 76. Minute nicht mehr gewachsen, als Sören Bertram im Strafraum gelegt wurde, und das Glück beim 0:2 die Hanseaten nun schmerzhaft einholte. Den Gastgebern war’s egal und der Gefoulte vollstreckte unhaltbar gegen Hahnel, der die Ecke geahnt hatte, zum 2:2-Ausgleich. Nun brachen im Stadion alle Dämme und im Gästeblock der Glaube an das Gute endgültig entzwei. Zum zweiten Mal in Folge sollte die Kogge eine 2:0-Führung noch verschenken? Während man sich im Block noch fassungslos am Kopf kratzte, machten die Spieler auf dem Rasen das Unheil perfekt. Der agile und kräftige Sembolo setzte nur drei Minuten nach dem Ausgleich einen krachenden Volleyschuss an die Latte, reagierte aber schneller, als die gesamte Defensive der Gäste zusammen und staubte zur sensationellen 3:2-Führung ab. Die HFC-Fans waren noch gar nicht richtig fertig damit, den Ausgleich zu feiern, als das Stadion schon wieder bebte. Im Gästeblock: Schock, Fassungslosigkeit und Wut, die allerdings nicht wie so oft in bedingungslose Treue und Hingabe mündeten, sondern in sprichwörtliche Totenstille. Selbst als Außenstürmer Julian Jakobs versuchte, die mitgereisten Anhänger anzuheizen, blieb es still. Anders stellten es die Spieler der Kogge an, die nun ihre letzten Reserven in die Waagschale warfen, auch wenn das lange brotlos blieb. Symptomatisch dafür war ein verzweifelter Angriff in der Nachspielzeit, als der Ball bereits in Richtung Toraus flog. Leonhard Haas brachte die Kugel jedoch mit letzter Willenskraft per Fallrückzieher zurück in den Strafraum, wo David Blacha lauerte und in letzter Minute vollstreckte. Der beste Angriff der Hanseaten im gesamten Spiel, in der Nachspielzeit, führte zur Entscheidung – oder nicht? Während die Gästefans wieder erwacht waren und zumindest den Punktgewinn in letztem Moment zelebrierten, während sich die Rostocker todmüde zum nahenden Schlusspfiff schleppten, kam Toni Lindenhahn, Eigengewächs des HFC mit einem Jahr Hansa-Jugendakademie im Portfolio, aus der Tiefe. Ein langer Ball von Ziebig einfach nach vorne gedroschen, eine Kopfballabwehr der Rostocker, berührt der Ball den Boden, ist das Spiel aus, das 3:3 in Sack und Tüten – und Toni Lindenhahn nimmt den abgewehrten Ball aus 30 Metern direkt und reißt mit diesem Hammer fast ein Loch ins Netz von Rostocks Torhüter Hahnel. 4:3, Schlusspfiff!
„Zack, gewinnst‘ das Spiel 4:3.“
Wut, Ärger, Frust, Glück, Hoffnung, Freude, Erleichterung – all das hatten die Fans beider Mannschaften in diesem Spiel schon durchlebt. Was am Ende in den Herzen der Anhänger beider Seiten vorgegangen sein muss, lässt sich wohl kaum anders in Worte fassen, als es der Held des Tages nach dem Spiel im Fernsehen formulierte: „…und dann kommt so ein Hammer, ja? Zack, gewinnst‘ das Spiel 4:3!“ Und Punkt. Während die Rostocker so gar nicht wussten, was ihnen da eigentlich gerade passiert war – 0:2-Führung, Ausgleich, Rückstand, Ausgleich in letzter Minute, Niederlage in letzter Sekunde – gab es auf Seiten des HFC pure Freude bis spät in die Nacht. Man mag sicherlich diskutieren können, warum die Mannschaft von Sven Köhler in den letzten zwei Spielen sieben Gegentore kassierte. Man kann es in Anbetracht dieses grandiosen Spiels aber auch dabei belassen, dem legendären Fußballgott dafür zu danken, solche Spiele miterlebt haben zu dürfen.
FOTO: Sebastian Ahrens / rostock-fotos.de // Marcus Bölke