Der Fall Arminia Bielefeld: Erfolg, Kampf und Leidenschaft
Sie werden oft zitiert und in beinahe jeder Saison geschehen sie irgendwo in Deutschland in ihrer unvorhersehbaren und unglaublichen Art und Weise. Die berüchtigten "Geschichten des Fußballs", die nur in dieser Sportart geschrieben werden können, reißen Fans von vielen Teams immer wieder mit, führen nah an den Wahnsinn oder eben zu einer Explosion an Emotionen. Solch eine Geschichte ist das letzte Jahr des ostwestfälischen Traditionsklubs Arminia Bielefeld. Kaum ein Verein in Deutschland musste in den letzten Jahren so viele Höhen und Tiefen – gerne auch innerhalb von 90 Minuten – durchleben wie die Arminia. An dieser Stelle wirft liga3-online.de einmal einen Blick auf die Zeit von Mai 2014 bis Mai 2015 und die damit verbundene Geschichte des Fußballs:
Der Wahnsinn von Dresden
Am 11. Mai 2014 gastierten die Bielefelder zum absoluten Entscheidungsendspiel um den Relegationsplatz in der 2. Liga in Dresden. Dass es überhaupt soweit gekommen war, beruhte auf einer durchaus beachtlichen Leistungssteigerung des DSC in den Wochen zuvor. Mit einem seltsam positiven Gefühl reisten die Anhänger der Arminia also nach Sachsen. Der nahende Abstieg war schon seit einigen Wochen immer präsenter in den Köpfen geworden, doch die Form der Blauen gab Hoffnung für den benötigten Sieg bei den Dynamos. Das was folgte, dürfte einigen Kardiologen gleich mehrere Patienten in die Praxis getrieben haben. Bereits nach gut einer halben Stunde geriet die Arminia in Unterzahl. Wie sollte das denn noch klappen? Doch das Team raffte sich auf, agierte als Einheit und ging durch Fabian Klos sogar in Führung. Die Ekstase im Gästeblock war riesig. Vor allem nach einem weiteren Platzverweis, diesmal auf der Gegenseite, und dem 2:0-Treffer ebenfalls durch Klos. Die Relegation schien zum Greifen nah, die Motivation stieg weiter und weiter. Doch die letzte halbe Stunde lässt sich dann kaum noch in Worte fassen. Pyrotechnik, Böller auf dem Feld, Spielunterbrechung und eine Viertelstunde Pause. Das Spiel beginnt erneut nach knapp 70 Minuten und innerhalb von fünf Minuten stellt Dynamo von 0:2 auf 2:2. Futsch ist die Relegation! Schock und Ungläubigkeit machen sich breit. "Das kann doch nicht sein! Das geht doch nicht, dass es jetzt 2:2 steht! Warum denn schon wieder wir?" hörte man im Block. Die Mannschaft interessierte das herzlich wenig. Kaum zwei Zeigerumdrehungen später setzte Kacper Przybylko das Leder wieder ins Netz der Gastgeber und brachte die erneute Führung. Zehn Minuten Spielzeit und fünf Minuten Nachspielzeit brachten drei, vier hundertprozentige vergebene Torchancen für die Arminia zur Entscheidung: Da gehst du als Anhänger kaputt! Und nachdem der Puls aller Beteiligten schon nah an der 200er Marke stand, war Schluss. Arminia durfte in die Relegation.
Der Horror von Darmstadt
In dieser ging es gegen den SV Darmstadt 98. In der Vorsaison noch sportlich abgestiegen, hatten die Lilien sich in einer grandiosen Saison den Relegationsplatz erkämpft und brannten nun auf die Rückkehr ins Unterhaus des Deutschen Fußballs. Arminia Bielefeld dagegen hatte den Ligaverbleib auf einmal wieder in der eigenen Hand und wusste diesen Vorteil scheinbar zu nutzen. In einem starken Hinspiel setzte sich der Zweitligist nach sehenswerten Toren von Müller, Sahar und Hille verdient mit 3:1 auswärts durch. Der Klassenerhalt war greifbarer denn je. "Das packen wir! Was sollte da denn im Rückspiel noch schief gehen?" Mit einem Wort: Alles. Verkrampft, ängstlich und überfordert agierte das Team von Norbert Meier am 19. Mai 2014. Mit Mühe und einem bärenstarken Stefan Ortega rettete sich die Elf mit einem 1:3-Rückstand in die Verlängerung. Dann die 110. Minute und erneut Kacper Przybylko netzt zum lebenswichtigen 2:3 und dem damit verbundenen Klassenerhalt ein. "Nur noch zehn Minuten ohne Gegentor bleiben!" Das gelang dem DSC dann auch, doch zeigte Dr. Jochen Drees noch zwei Minuten Nachspielzeit an. In dieser wurde dann Fußballgeschichte geschrieben, wie sie sich seit dem Champions-League Finale 1999 wohl nicht mehr zugetragen hat. In der 122. Minute konnte die Defensive einen hohen Ball nicht klären, Elton da Costa nahm einfach Maß, Burmeister fälschte den Ball ab und der schlug unhaltbar für Stefan Ortega im Gehäuse der Blauen ein. 3000 Lilien-Anhänger feierten, Totenstille in der SchücoArena. Verzweifelte Blicke ins Rund, zum Schiedsrichter: "Mach doch was…"; aber das Tor zählt. Der Abstieg steht fest, oder? Noch einmal Anpfiff, noch einmal alles nach vorne. Ein langer Ball kommt am Fünfer zu Arne Feick, der setzt zum Kopfball an und der Ball geht … an den Innenpfosten und wird geklärt. Nach 125 Minuten ist Schluss und Arminia Bielefeld hat den wohl bittersten Abstieg der Zweitliga-Geschichte sicher. Fand man in Dresden kaum noch Worte für das Spiel, so gab es nach dieser Relegation definitiv keine mehr.
Ein Umbruch mit Anlaufzeit
Quo vadis Arminia? Ist eine 3. Liga überhaupt zu finanzieren? Wer bleibt? Wer kommt? Wie geht es weiter? Fragen über Fragen in den Köpfen der Anhänger und über allem der tiefe Schock der Relegation. Die Spieler brauchten mehrere Tage, bis sie über die Ereignisse sprachen, die Fans fühlten Leere. Doch irgendwann in dieser Zeit geschah etwas. Ein neues Denken setzte rund um Bielefeld ein: "Jetzt erst Recht" lautete die Devise. Der DSC verzeichnete steigende Mitgliederzahlen, mehr Dauerkartenverkäufe und auch Sponsor Gerry Weber bekannte sich deutlichst zur Arminia. Ein neuer Kader sollte her, mit alten Säulen. Fabian Klos "lief nicht weg", sondern verlängerte seinen Vertrag. Auch Tom Schütz, Christian Müller, Stefan Salger, Sebastian Hille, Manuel Hornig oder Pascal Testroet blieben in Bielefeld. Dazu kamen viele neue Gesichter aus dem In- und Ausland. Trainer Norbert Meier bekannte sich ebenfalls zu schwarz-weiß-blau und wollte den Wiederaufstieg in Angriff nehmen, wenngleich alle Verantwortlichen eine gewisse Anlaufzeit prophezeiten. Dann der erste Spieltag in der 3. Liga gegen Mainz II und … schon wieder der Schock. Nach neun Minuten ging der Aufsteiger aus der Regionalliga völlig verdient in Führung. "Nicht schon wieder"…"Das kann doch jetzt nicht sein"… Doch die Spieler rissen das Ruder noch einmal herum und drehten über Klos und Hemlein die Partie noch zum Sieg. Was einige als Warnung sahen sollte sich dann bewahrheiten. Ein 1:5 gegen Halle, ein 0:0 gegen Chemnitz und ein 1:2 gegen Osnabrück später rutschten die Ostwestfalen kurz vor einem Abstiegsplatz zur Regionalliga und vieles stand schon wieder in Frage.
Per Knotenlöser zum Serientäter
Und dann kam ein Spiel, was vieles im Verein und der Mannschaft veränderte, der DFB-Pokal gegen den SV Sandhausen und eine Chance sich zu beweisen. In der mit knapp 7500 Zuschauern spärlich besetzten Arena spielte sich die Arminia in einen Rausch und fertigte den Zweitligisten mit 4:1 hochverdient ab. Nach dem Traumtor von Fabian Klos zum 2:0 sah man überall staunende Gesichter im weiten Rund. Aber auch Euphorie, Aufbruchstimmung und Vorfreude auf die kommenden Wochen wurde spürbar. Und das setzten die Ostwestfalen auch um, spielten eine überragende Serie bis zur Winterpause und überwinterten mit fünf Punkten Vorsprung auf den Tabellendritten an der Tabellenspitze. Quasi im Vorbeigehen warf man auch noch Hertha BSC aus dem DFB-Pokal und zog selbst ins Achtelfinale gegen den SV Werder Bremen ein: Der DSC war wieder da. Der Favorit der Saison setzte Zeichen und ließ nur noch in einzelnen Spielen einen Durchhänger erkennen – unglücklicherweise auch mal wieder in Münster.
Neues Jahr, altes Bild?
Das neue Jahr konnten die Spieler und Fans dann auch kaum noch erwarten, schließlich wollte man die eigene Serie von sechs Siegen in Folge ohne Gegentor ausbauen. Doch mit einem Doppelschlag verlor man erst 0:3 bei Fortuna Köln und lag im nächsten Heimspiel schon 0:2 gegen den MSV Duisburg zurück. In den Köpfen machte sich erneut der Spuk der Relegation breit, die dramatischen Spiele der letzten Jahre. Doch die Mannschaft ist eine andere, eine neue. Sie hat durch Trainer und Spieler eine neue Mentalität. Man drehte das Spiel gegen die Zebras und gewann auch in der "Woche der Wahrheit" souverän das Derby in Osnabrück und das Spitzenspiel bei den Stuttgarter Kickers. Das 4:0-Festival gegen Unterhaching wurde auch "mal eben so" mitgenommen, bevor es im Pokal zur Rückkehr in alte Zeiten kam, denn es gastierte wieder ein Bundesligist auf der Alm.
Pokalparty mit Ermüdungserscheinungen
Es kam zu Fußballfesten in Reinkultur. Der Drittligist blühte auf und spielte sich in einen Rausch nach dem nächsten. Auf schwerem Geläuf schickte man die Gäste von der Weser hochverdient mit 3:1 nach Hause und stand im Viertelfinale des Pokals gegen Borussia Mönchengladbach. Gegen den Bayern-Bezwinger legten die Männer von Norbert Meier gleich noch eine Schippe mehr auf die Leistung und kegelten den nächsten Bundesligisten aus dem Wettbewerb. Erst gegen den VfL Wolfsburg und im Halbfinale der Pokalsaison sollte dann Schluss sein. Doch mit einer unfassbaren Atmosphäre vor, während und nach dem Spiel, überragenden Leistungen und einer beträchtlichen Summe Einnahmen hat sich Arminia Bielefeld in Deutschland wieder Respekt verschafft. Der Name des Vereins steht wieder für Erfolg, Kampf und Leidenschaft. In der Liga dagegen vergeigte man in Konsequenz jedes Spiel nach den Pokalpartien gegen Kiel, Dortmund II, Dresden und wieder Kiel.
Die Angst vor dem Déjà-vu, die Erleichterung durch Testroet
Der Vorsprung in der 3. Liga war zwischenzeitlich auf neun Punkte angewachsen doch mit zunehmender Regelmäßigkeit und starken Spielen der Konkurrenz aus Duisburg und Kiel schrumpfte er immer mehr zusammen. Gegen die KSV Holstein hätte man dann einen riesen Schritt in Richtung zweite Liga machen können, doch verpasste man in den Schlusssekunden einmal die Aufmerksamkeit und kassierte den späten Ausgleich. Eine Woche später wollte man dann in Wiesbaden den Sack mit einem Sieg zumachen … wieder vergebens. Nur noch zwei Punkte Vorsprung auf Duisburg und drei auf Kiel. Gegen den Tabellenletzten aus Regensburg sollte doch wohl ein Punkt herausspringen. Doch nach 80 Minuten lag die Arminia urplötzlich mit 1:2 zurück und sämtliche Erinnerungen an das Verspielen eines sicher geglaubten Ziels kehrten zurück. Fabian Klos hatte schon auf dem Platz Tränen in den Augen. Doch die 87. Minute des Spiels gegen den Jahn sollte alles vergessen machen. Eine Ecke von Florian Dick fand am langen Pfosten ausgerechnet Pascal Testroet. Der Stürmer, der immer mit vollem Einsatz im Training dabei war, aber nie zu Einsatzzeiten kam und daher schon als Abgang feststand, setzte sich selbst ein Denkmal und nickte den Ball zum Ausgleich in die Maschen. Die Alm glich erneut einem Tollhaus, es war vollbracht und der DSC Arminia Bielefeld steht wieder in der 2. Liga. Ein Jahr nach dem Horror von Darmstadt hat die Arminia viel erlebt, sich in Deutschland wieder einen Namen gemacht und eine bisher ungekannte Euphorie entfacht. Voller Zuversicht blickt man nun auf die kommende Saison in der 2. Bundesliga, in der es nur um den Klassenerhalt gehen wird, um ein zweites Darmstadt nie wieder Realität werden zu lassen. Und dennoch wissen die Fans der Blauen schon jetzt: Ohne Drama geht es in Bielefeld nicht und das wird sich vermutlich auch nie ändern! Aber genau das sind sie, die Ereignisse weswegen der Fußball so viele Anhänger findet und weswegen es unzählige Fans für die Teams auf der ganzen Welt gibt. Deswegen lässt der Fußball die Fans nicht mehr los, wenn er sie erst einmal in den Bann gezogen hat. Das sind sie, die "Geschichten des Fußballs!"