Ein Jahr Geisterspiele: Zwischen Wehmut und Hoffnung

Es mag wie bittere Ironie wirken, dass das letzte "normale" Drittliga-Spiel kein ganz normales war, sondern begleitet von einem Stimmungsboykott der aktiven Fanszene. Hansa Rostock gegen Eintracht Braunschweig am 9. März 2020 sowie der 27. Spieltag der Saison 2019/20 jähren sich in diesen Tagen. Was wir zum Anlass nehmen wollen, daran zu erinnern, wie der Fußball in der 3. Liga eigentlich sein sollte.

Geruch von Bier und Bratwurst fehlt

John Verhoek ballte noch einmal die Faust, setzte zu einem Jubelsprung an und deutete in Richtung der Fankurve, als er kurz vor Schluss die allerletzten, eigentlich nie vorhandenen Zweifel am Heimsieg beseitigt hatte. Nein, organisierten Support durften die Spieler des FC Hansa an diesem Montagabend nicht erwarten, obgleich sie ihn nach einer tollen Leistung so sehr verdient hatten – aufgrund des Spieltermins hatten die Rostocker Fans auf der Südtribüne schon Wochen zuvor angekündigt, keine aktive Unterstützung zu liefern. Es fiel manchem sicher schwer, denn Rostock brannte ein kleines Feuerwerk ab, schickte Eintracht Braunschweig gnädigerweise "nur" mit 3:0 zurück nach Niedersachsen. Knapp 12.300 Besucher waren dabei, erlebten, wie ein Flutlichtmast ausfiel und das Spiel eine lange Unterbrechung erfuhr. Wobei: Was waren jene 20 Minuten Pause im Vergleich zu den vielen fußballlosen Wochen, die folgen sollten?

Das Coronavirus hielt Einzug, es beschäftigt uns heute nicht minder als damals. Erst wurden die Zuschauer verbannt, dann die Spieltage komplett abgesagt. 12.200 Fans in Duisburg, 15.700 in Kaiserslautern, 6.200 in Halle – wer an jenem Märzwochenende noch einmal ins Stadion ging, durfte sich glücklich schätzen. "Heute vor einem Jahr", posten nicht wenige Freunde und Kollegen dieser Tage zusammen mit einem Foto von damals, vom letzten "richtigen" Stadionbesuch in den sozialen Netzwerken. Viel Wehmut schwingt mit: Fußballfans fehlt kaum etwas mehr als die Atmosphäre, das Drumherum, ja allein der unnachahmliche Geruch von Bier und Bratwurst. Die Auswärtsfahrten in Bussen, Transportern und Regionalzügen. Das Fachsimpeln in den Gastwirtschaften quer durch Deutschland, ob es nun drei Punkte gab oder die vierte Niederlage in Serie. Ja, manchem soll selbst das Gefühl fehlen, sich vollen Herzens über seinen Klub aufregen zu können.

38 Spieltage sind vergangen

All diese Charakteristika waren auch während der kurzen Phase der mit strengen Auflagen verbundenen Teilöffnung der Arenen im vergangenen Spätsommer kaum bis gar nicht vorhanden, weshalb wir diese Zeitperiode auch gar nicht mit dem Wort "Normalität" in Verbindung bringen wollen. Normalität, das sind für uns die Auswärtsfahrer-Statistiken, die Choreographien, ja selbst die Strafentabelle für Pyrotechnik. Wer die 3. Liga liebt, der tut das nun einmal kaum wegen des tollen Fußballs, sondern wegen der Rahmenbedingungen, der pulsierenden und doch nahbaren Klubs. Der tut das, weil er an Samstagen wie dem just vergangenen in der Bundesliga Duelle zwischen Hoffenheim und Wolfsburg entdeckt, während zwei Etagen tiefer Rostock gegen Kaiserslautern, Duisburg gegen 1860 München und Magdeburg gegen Waldhof Mannheim spielen, und der sich fragt: Was macht die erste Liga überhaupt noch erstrebenswert?

Genau 38 Spieltage, genau eine Saison sind seit jenem 9. März 2020 vergangen, und es ist verdammt viel passiert: Der MSV Duisburg war damals noch Spitzenreiter, die SpVgg Unterhaching Dritter, die späteren Aufsteiger Braunschweig und Würzburg standen im grauen Mittelfeld, der KFC Uerdingen spielte noch in Düsseldorf. Bittere Momente erlebten alle Fans derer Klubs, die unter sterilen Bedingungen aufgestiegen sind oder in die Relegationsspiele mussten, noch mehr aber jene, die sich aus der 3. Liga Liga verabschiedeten: In Chemnitz, Münster, Großaspach und Jena schaute die Anhängerschaft tatenlos zu, wie teils lange Drittliga-Kapitel ihr Ende fanden. Kurios wird es für die, die derzeit an ihrer direkten Rückkehr zu altem Status arbeiten: Schafft der designierte Aufsteiger Dynamo Dresden, sich wieder für die 2. Bundesliga zu qualifizieren, hätte sich bei der möglichen Fanrückkehr im Spätsommer im Vergleich zum März 2020 nicht viel verändert. Man könnte die Corona-Pandemie in dieser Hinsicht als bösen Alptraum abhaken.

Hoffnung auf "normale" Saison 2021/22

Tatsächlich werden das viele Klubs nicht so einfach können. Die finanzielle Lage ist angespannt, und wo die Bundesligisten über hohe Fehlbeträge und Zukunftssorgen klagen, da können die Verantwortlichen aus der 3. Liga nur müde lächeln: Sie müssen seit einem Jahr ohne die existenziell wichtigen Zuschauereinnahmen leben, bei Sponsoren betteln und die wenigen Beträge aus der TV-Ausschüttung dreimal umdrehen, um nicht mit großen Belastungen in die Zeit nach der Pandemie gehen. Zudem, und das hat uns dieses Jahr Pandemie mehr als deutlich gemacht, kann sich die Lage stetig verändern. Die Hoffnung auf einen "normalen" Sommer und Herbst mit der schrittweisen Rückkehr zum normalen Leben kann die nächste entdeckte Mutation wieder zerstören, es gibt große Verlockungen und nicht minder große Hindernisse. Prognosen wären unseriös.

Bereiten wir uns also vor auf das zweite Saisonfinale im Modus Geisterspiel, auch wenn ausgerechnet in Rostock, das bislang stets mit niedrigen Infektionszahlen durch die Pandemie kam, erste Zuschauerpläne entworfen werden. Unbeschwert nah beieinanderstehen, anzufeuern, Geselligkeit auszuleben – all das muss noch warten. Hoffen wir, dass die Kurven so laut, so vielseitig, so bunt bleiben und dieses Jahr plus X keine bleibenden Schäden, keine Entfremdung in der Fankultur hinterlassen wird, die die 3. Liga nicht verdient hätte. Denn ob die stimmungsvollen Derbys im Osten oder Südwesten oder ein Duell zwischen Meppen und Zwickau – unsere Spielklasse schätzt ihre Fans und braucht sie zugleich. So zahlreich und so bald, wie es möglich ist.

   

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