Eine Stadt im Freudentaumel: Der wahre Grund für Ulms Aufstieg
Auch in dieser Woche halten die Feierlichkeiten in Ulm an: Nach 23 Jahren sind die Spatzen wieder ein Top36-Klub in Deutschland! Und ist es nicht höchst bemerkenswert, wie der SSV um Trainer Thomas Wörle und Geschäftsführer Markus Thiele diesen unverhofften Erfolg einleiteten? Konstanz und das Urvertrauen in weite Teile des bestehenden Kaders stehen im Vorwort eines modernen Fußballmärchens.
Wenige Neuzugänge, und längst nicht alle haben gezündet
Leipzig, Würzburg, Regensburg, Elversberg, Ulm! Als fünfter Drittligist ist dem SSV Ulm 1846 der direkte Durchmarsch in die 2. Bundesliga geglückt. Mit einem 2:0-Sieg über Viktoria Köln brachen am Samstagnachmittag die Fluchttore des Donaustadions auf, und ein Großteil der 17.000 Besucher strömte auf den Rasen. Wofür der 1. FC Kaiserslautern wohl noch viele Jahrzehnte lang alleinstehend in der Bundesliga gefeiert wird, scheint sich die 3. Liga zu gewöhnen: Zum zweiten Mal in Folge ist ein Neuling Meister geworden, zum zweiten Mal in Folge ist das Ganze hochverdient. Die zweitbeste Offensive, die beste Abwehr, die punktgleich beste Heim- und die alleinig beste Auswärtsmannschaft: Thomas Wörle und seine Mannschaft reihen die Bestwerte nur so aneinander – und dürften, vergleicht man die investierten Mittel, wohl noch sensationeller aufgestiegen sein als die kleine, aber finanziell schlagkräftige SV Elversberg im Vorjahr.
Erstaunlich ist allen voran eins: Der Coup gelang zum Großteil mit der bestehenden Aufsteiger-Mannschaft. "Nur" sieben Spieler hatte dieser SSV Ulm 1846 im vergangenen Sommer verpflichtet, sich dazu zweimal im Wintertransferfenster verstärkt. Und längst nicht jeder dieser Transfers nahm ja im Verlauf der Spielzeit eine Schlüsselrolle ein: Linksverteidiger Sascha Risch (kam aus Meppen), der noch mit vergleichsweise viel Profierfahrung ausgestattet war, ist seit November ohne jeden Einsatz. Gleiches gilt für den Ex-Stuttgarter Julian Kudala sowie VfB-Leihgabe Thomas Kastanaras, der in der Rückserie nur zu relativ wenigen Spielminuten kam. Zu Eckpfeilern wurden – na klar – Überflieger Léo Scienza, aber auch der technisch kaum minder versierte Max Brandt im Mittelfeld. Plus Abwehrhüne Tom Gaal und den im Ulm aufblühenden ehemaligen Braunschweiger Philipp Strompf, jenes Duo, das gemeinsam mit Kapitän und Ur-Ulmer Jo Reichert die Achse der mit Abstand zuverlässigsten Drittliga-Defensive bilden.
Jeder Verein braucht einen Typen wie Jo Reichert
Ob ein Reichert, ein Torhüter wie Christian Ortag, ob ein Romario Rösch, ein Lennart Stoll oder ein Dennis Chessa: Es ist und bleibt maximal erstaunlich, wie sich so viele langjährige Regionalliga-Spieler auf ein neues Niveau hievten und dieses über die Rückrunde hinweg immer weiter anhoben. Sie alle pushten sich als homogene Gemeinschaft kontinuierlich zu Bestleistungen – ein Faktor, der in der Endabrechnung nicht nur am Beispiel des SSV, sondern wohl auch an Mitaufsteiger Preußen Münster als existenziell und entscheidend für den Erfolg in der 3. Liga eingestuft werden kann.
Wohl über allem aber thront dieser Johannes Reichert, der sich mit dem 404. Pflichtspiel für seine Heimatstadt im Alter von 32 Jahren einen Lebenstraum erfüllte. Er, der zu Bundesliga-Zeiten des SSV im Jahr 2000 laut Interview bei dfb.de "kaum über die Werbebanden hinwegschauen" konnte, hatte es sich immer vorgenommen, seinen Klub zurück auf Bundesliga-Niveau zu führen. Man mag sich kaum ausmalen, welche Kraft ein solcher Akteur in den eigenen Reihen entfachen kann, wenn die Gesamtmischung in der Mannschaft passt. Und das war, im krassen Gegensatz zu den selbsternannten Topfavoriten Dresden, Sandhausen und Ingolstadt, an der Donau eben der Fall. Eine krachende Ohrfeige ganz nebenbei nicht nur für die Genannten, sondern für alle, die deutlich mehr als die Ulmer in ihre Profis investierten, dabei aber letztlich nur eine halb so gefestigte Einheit zusammenstellten.
Überraschende Statistik zeigt den Handlungsbedarf
Nicht nur infrastrukturell, sondern auch sportlich wird das nächste Jahr allerdings ein Husarenritt. Kaum noch vorstellbar ist, dass Scienza gehalten werden kann – er dürfte mit dem offenbar bevorstehenden Wechsel zum 1. FC Heidenheim sogar den sofortigen Sprung in die deutsche Beletage wagen. Worauf sollen dann die statistisch ohnehin mäßigen Offensivbemühungen fußen? Der Wert mag fast kurios erscheinen, doch: Meister Ulm verzeichnet mit 1,1 erwarteten Toren pro Partie den drittschwächsten Wert der ganzen Liga, nur die Absteiger Lübeck und Freiburg kommen auf geringere Zahlen. Umso beeindruckender ist die Effizienz, die auf Zweitliga-Niveau aber umso schwerer zu bestätigen ist. Allemal nicht verstecken muss sich die Hintermannschaft, die aber ebenso verstärkt werden will.
Vielleicht tut der SSV Ulm 1846 aber auch gut daran, an den Prinzipien des vergangenen Sommers gar nicht viel zu verändern: Sechs, sieben Neue kommen dazu, die ihre Interessen möglichst komplett in den Dienst der Mannschaft stellen und die Station unter dem Ulmer Münster als Chance für sich sehen. Den Rest regelt einmal mehr die gewohnte, eingeschworene Truppe. Zumindest den Versuch, sich im Sommer und Herbst auf Zweitliga-Niveau zu befördern, hat jeder Stammspieler dieses bewundernswerten Sensations-Aufsteigers allemal verdient.