Klassenerhalt! Was kommt nach dem dritten Wunder von Verl?
Das schwere zweite Jahr hatte es tatsächlich in sich, im dritten surfte der SC Verl nach kurzen Anlaufproblemen auf einer nicht enden wollenden Welle ganz entspannt in Richtung Ligaverbleib. Mehrere Protagonisten teilen sich nun das Attribut, Vater des Erfolgs zu sein. Und müssen nun womöglich schon bald gestiegene Erwartungen dämpfen.
Verl pulverisiert die infrastrukturellen Grenzen
So ein 1:3 in Ingolstadt hätte vor der Saison kaum für schwere Unzufriedenheit gesorgt. Im Duell David gegen Goliath – mindestens was finanzielle Aspekte betrifft – hätte der FCI den Sportclub aus Verl im Verlauf des Jahres um Längen distanzieren müssen. Doch am Beispiel dieser beiden Klubs zeigte der Fußball, was ihn so herrlich unberechenbar macht: Verl wird die Audistädter trotz der völlig verdienten Pleite am vergangenen Wochenende nach 38 Spieltagen wohl hinter sich lassen, wahrscheinlich einen Platz in der oberen Tabellenhälfte belegen. Trainer Mitch Kniat, Sebastian Lange als Sportlicher Leiter, Raimund Bertels als Vorsitzender: Dieses Trio hat fulminante Arbeit geleistet. Und kann als Belohnung nun frühzeitig mit der Planung für das kommende Jahr beginnen. Denn schon seit dem 2:1 über Borussia Dortmund II am 33. Spieltag ist der Klassenerhalt gewiss. Viel früher als im Vorjahr, als Verl bis zur allerletzten Minute zitterte.
"Gruß an die Experten", flockte Verl auf die Shirts. Sie hatten ja recht: Auch liga3-online.de hatte in der Prognose vor der Saison den SCV auf Platz 16 bis 20 verortet, verbunden mit einer Aufforderung, uns einmal mehr eines Besseren zu belehren. Nichts anderes geben die Möglichkeiten in Ostwestfalen her: ein Stadion für 5.000 Fans, das Verl erst im dann vierten Drittliga-Jahr wird nutzen können. Ein Natur- sowie zwei Kunstrasenplätze daneben. Ein Kabinen- und Funktionstrakt, der optisch kaum von einem größeren Mehrfamilienhaus zu unterscheiden ist. Eine winzig kleine Geschäftsstelle, ein Etat, der im Vergleich zur Konkurrenz winzig ist. Improvisation ist eine Kunst, der SC Verl beherrscht sie. Vor allem bei der mutigen Zusammenstellung des enorm jungen Kaders, der aber mit außergewöhnlichem Zusammenhalt belohnt wird.
Auch Kniat wird Angebote bekommen
Trainer Kniat folgte vor mehr als einem Jahr auf Guerino Capretti, als er vom SC Paderborn II an die Poststraße wechselte, war er nur absoluten Experten und in der regionalen Fußballszene ein Begriff. Sein persönlicher Aufstieg war kein glatter, in der Rückrunde 2022 hätte das Projekt mit dem Abstieg einen herben Dämpfer erhalten, auch der Saisonstart war holprig. Ein Punkt stand nach fünf Spielen auf der Habenseite, beim 0:1 in Oldenburg waren die Schwarz-Weißen nicht nur tabellarisch am Tiefpunkt angekommen. Kniat konnte seine Mannschaft, die das Fehlen von Abwehrboss Torge Paetow in der Anfangsphase der Saison nicht verkraftete, kaum wiedererkennen. "Es wird ungemütlich", las der Sportclub in den lokalen Medien über sich. Doch die Klubspitze bewahrte die Ruhe, Kniat vertraute dem Verl-typischen 4-3-3, nahm nur personelle Veränderungen vor – und machte das hochriskante, für jeden Gegner aufgrund seiner Laufintensität unbequeme Kombinationsspiel effizient. 47 Punkte in 29 Partien sollten folgen. Ein verdienter Lohn für etliche hochattraktive Spiele.
Der 37-Jährige, der den Fußballlehrerschein 2021 gemeinsam mit Capretti absolviert hatte, wird Licht und Schatten in der Karriere seines Vorgängers bemerkt haben: Capretti hatte in Dresden und zuletzt in Ingolstadt keinen Erfolg – der Sprung aus dem beschaulichen Umfeld in Verl in eines mit bedeutend größerem Druck von außen war ein großer, vielleicht zu großer. Alsbald dürfte Kniat mit dem ähnlichen Thema konfrontiert werden: Wer aus einem Low-Budget-Kader einen derart soliden Drittligisten formt, der rückt in den Wunschlisten anderer Klubs nach oben. Jüngst tauchte ein erstes Gerücht auf, das Kniat beim 1. FC Nürnberg verortete – dort wird im Sommer gesucht. "Wer auch immer da in Nürnberg verhandelt hat, ich war es nicht", sagte Kniat in der "Neuen Westfälischen". "Ich arbeite gerne in Verl." Nach Informationen der Zeitung sollen zeitnah erste Neuzugänge für die neue Saison präsentiert werden.
Ganz ohne Aderlass geht es in Verl kaum
Für die zeichnen Vorstand Bertels sowie mehr und mehr Sportchef Lange verantwortlich. Lange war einst Torwart, dann Torwarttrainer und Scout, hat nun den Quereinstieg gemeistert. Beide sind Urgesteine im Klub, die "Sportclub-DNA" ist mehr als eine Floskel, sie wird gelebt. Wer den Weg nicht mitgeht, der geht – notfalls auch schon kurz nach der Verpflichtung. In einer Mannschaft, die dazu gezwungen ist, über sich hinauszuwachsen, darf keiner ein Egoprojekt verfolgen. Wie gut Einzelne in der Gemeinschaft erstrahlen können, zeigt etwa Feingeist Nicolas Sessa. Der wirbt mit einem starken Jahr wieder für besser dotierte Verträge, hat den Karriereknick überwunden. Dem SCV ist klar, dass er solche Akteure nicht ewig halten kann. Kasim Rabihic, Aygün Yildirim, Ron Berlinski, Lars Ritzka, Mehmet Kurt, Berkan Taz: Die Liste an Spielern, die "den nächsten Schritt" gegangen sind, wächst munter an. Umso wertvoller ist einer wie Kapitän Mael Corboz, der seinen Vertrag bis 2025 verlängerte – und als Mittelfeld-Allrounder sowie als positive Seele das Team doppelt zusammenhält. Auch Topscorer Maximilian Wolfram bleibt den Ostwestfalen weiter erhalten.
Apropos nächster Schritt: Wohin soll es im kommenden Jahr gehen? Erste neugierige Nachfragen musste Raimund Bertels schon beim Heimspiel gegen Dortmund abwiegeln: Nein, den Angriff auf die Spitze konnte der 55-Jährige schwer ausrufen. Glaubwürdig verkaufen lässt sich solch ein Ziel in Verl nicht, und warum überhaupt damit unter Druck setzen? Dem Klub geht es wirtschaftlich gut, unvernünftige Summen werden daher aber nicht in den Etat gepumpt. Er freut sich lieber auf echte Heimspiele an der Poststraße und frohlockt schon mit einem ostwestfälischen Derby mit dem möglichen Zweitliga-Absteiger Arminia Bielefeld. Das hat es als Ligaspiel seit Jahrzehnten nicht gegeben. Hält der SCV seine Mannschaft im Kern zusammen und lockt erneut spannende Talente in die Kleinstadt, wird er wieder Favoriten ärgern können. Und in der Prognose zur Saison 2023/24 ganz sicher nicht mehr als Absteiger Nummer eins benannt werden…