SC Verl: Unauffällig zur faustdicken Überraschung
Wieder einmal waren es die dicken Tanker in dieser Liga, die in diesem Jahr fast die gesamte Aufmerksamkeit für sich beansprucht haben. Die einen Traditionsvereine klopfen an der Tür zur Zweitklassigkeit, die anderen kriseln nur so durch die Saison. Doch es soll nicht auf der Strecke bleiben, was ein kleiner, unscheinbarer Dorfverein geleistet hat: Der Klassenerhalt des SC Verl ist eine Überraschung. Die Art und Weise, wie er gelungen ist, sogar eine kleine Sensation.
Glückwünsche vom großen Nachbarn
"Bäm! Nächstes Jahr sind wir wieder dabei", postete der SC Verl am vergangenen Wochenende auf Instagram. Die Glückwünsche kamen schnell: Vom großen Nachbarn Arminia Bielefeld gab es fairen Applaus, aber auch von der Konkurrenz aus Halle und so einigen Fans. Das Schicksal, das nun wohl den VfB Lübeck erwartet, wollten sie auf keinen Fall teilen: Aufsteigen, zig Geisterspiele erleben und quasi unverrichteter Dinge, ohne das "echte" Erlebnis 3. Liga verspürt zu haben, wieder in die Regionalliga von dannen ziehen. Verl darf einen weiteren Anlauf nehmen. Und was hätten es sich diese Spieler verdient, einmal vor Zuschauern in den großen Arenen von Kaiserslautern, Dresden, Duisburg und Magdeburg aufzulaufen. Die Chancen stehen nun mehr als ordentlich, dass das klappt.
50 Punkte, 63 Tore – und die Saison hat ja noch vier Spieltage. Einen solch offensivfreudigen Aufsteiger sieht selbst die 3. Liga nicht alle Tage. Die Urheber des Erfolgs kennt mittlerweile fast jeder: Zlatko Janjic, der Routinier und Vollblutstürmer, der mit seinen 34 Jahren analog zu den noch erfahreneren Sascha Mölders und Ronny König beweist, dass Alter – zum Glück – nicht vor Torgefahr schützt. 14 Tore und acht Vorlagen bedeuten den Scorer-Bestwert vor Kasim Rabihic, der bereits 14 Treffer aufgelegt hat, sowie Aygün Yildirim, der wiederum auf 14 eigene Erfolgserlebnisse kommt. Aufgrund eines Fußbruchs werden bei ihm keine weiteren Tore dazukommen, nichtsdestotrotz würde es verwundern, wenn Yildirim über den Sommer hinaus in Verl bleibt. Es gibt zahlungskräftigere Adressen und einen ordentlichen Markt in dritter und zweiter Liga für technisch beschlagene Durchstarter wie ihn.
Viel Sachverstand auf dem Transfermarkt
Verl sagte über sich vor der Saison, den geringsten Etat in der 3. Liga zu haben. Gemessen am Verhältnis von Aufwand zu Ertrag macht den Ostwestfalen keiner etwas vor, nicht einmal die deutlich betuchteren Aufstiegskandidaten. Dass der Erfolg des Tabellensiebten nicht nur in Yildirims Fall Begehrlichkeiten geweckt hat, war erwartbar. Der defensive Mittelfeldspieler Mehmet Kurt ist der Erste, der den Schritt zur Ligakonkurrenz gehen wird, er wechselt im Sommer zum SV Wehen Wiesbaden. Sein Nebenmann Philipp Sander, derzeit ausgeliehen von Holstein Kiel, dürfte nach erfolgreicher Entwicklung zum Zweitliga-Vierten zurückkehren und den Bedarf an Box-to-Box-Spielern weiter erhöhen. Doch warum sollten Verl nicht erneut gute Griffe gelingen? Auch vor dieser Saison war die Fluktuation gerade im Mittelfeld groß, dem Liganeuling um seinen Vorsitzenden Raimund Bertels glückten aber diverse Transfers – neben Sander etwa Julian Schwermann, Rabihic und Winterzugang Mael Corboz, der derzeit kaum verzichtbar ist.
Nur zu raten ist aber, was alle diese Individuen auf den Platz bringen würden ohne einen Chef im Ring, einen Anführer: Trainer Guerino Capretti, 39 Jahre jung und damit noch ganz auf Augenhöhe mit den Spielern, die er seit Jahren immer wieder erfolgreich zu einem Verbund zusammenschweißt. Kürzlich feierte der Deutsch-Italiener nicht nur den Klassenerhalt, sondern auch vier Jahre Trainerdasein beim Sportclub. Kontinuität, die sich beim Amtsantritt – damals war Verl eine graue Maus in der Regionalliga West – so nicht abgezeichnet hatte.
Wo liegt das Maximum für den SCV?
Doch das braucht es eben für solch eine Erfolgsgeschichte an einem Standort, an dem kaum jemand Profifußball verorten würde: Viele kluge und durchdachte Entscheidungen, eine ruhige Hand, ein Umfeld des Vertrauens. Und Macher mit klaren, aber keinen unrealistischen Visionen. Dafür steht die Region Ostwestfalen, und dafür steht auch Klubchef Bertels. Daher weiß er auch, dass sich Capretti früher oder später mit anderen Offerten beschäftigen wird. Der SC Paderborn hat wohl Interesse. Beim ostwestfälischen Nachbarn könnte der 39-Jährige in die Fußstapfen von Steffen Baumgart treten. Dass ihm Verl große Steine in den Weg legen würde, ist unwahrscheinlich. Und würde auch nicht zum harmonischen Dasein passen, dass der Klub in der Blütezeit seiner Vereinsgeschichte hegt.
Automatisch bedeutet das auch, dass der SC Verl für sich nun das perspektivische Maximum ausloten muss. Wohin kann der Weg noch führen, oder sind wir schon am Höhepunkt angekommen? Was gibt die Infrastruktur überhaupt her? Bislang fehlt weiter ein eigenes, drittligataugliches Stadion, die Modernisierungspläne liegen zwar in der Schublade, noch aber rollt kein Bagger. In der kommenden Saison will der Klub im benachbarten Gütersloh spielen, auch Lotte ist eine Option. Die Trainingsmöglichkeiten sind begrenzt, die lokale Nachwuchsausbildung läuft im Rahmen der Möglichkeiten gut, stößt aber im Profibereich auch an Grenzen. Da ist vielleicht noch der SV Sandhausen, der über gut ein Jahrzehnt seine ganz eigene Geschichte in der 2. Bundesliga schreibt – ansonsten aber ist Verl sein eigenes Vorbild, und darüber hinaus das so vieler anderer kleiner Vereine, die gerne einmal auf nationaler Ebene spielen wollen.
Mancher Stern geht gerade erst auf, der andere verglüht allmählich. Die Sportfreunde Lotte sind ein mahnendes Beispiel dafür, dass sich auch kleine Vereine sehr wohl in Chaos stürzen können, wenn kurz Leichtfertigkeit einkehrt. Auch künftig müssen in Verl öfter als anderswo richtige Entscheidungen getroffen werden, um im Konzert der Großen mitzuspielen. Doch in jetziger Verfassung ist es dem Sportclub absolut zuzutrauen, das kleine Wunder zu wiederholen. Denn ob ihn nun als Bereicherung für die traditionsreiche Spielklasse empfindet oder nicht: Der kleine SC Verl hat sportlich in diesem Jahr jede Daseinsberechtigung nachgewiesen, als kleiner Klipper neben den großen Frachtern zu fahren.