Die Regeln des Spiels
Kein Staat der Welt, keine Gesellschaft und auch kein Sport, schon gar nicht Fußball, funktioniert ohne Regeln. Sie sollen die Kontrolle des Spiels und die Sicherheit aller Beteiligten gewährleisten und für gleiche Rahmenbedingungen sorgen, damit einem sportlich fairen Kräftemessen zweier Fußballteams nichts mehr im Wege steht. Prima!
Es ist Mittwochabend, 20.30 Uhr am 31. März 2010. Der 31. Spieltag der 3. Liga wird nachgeholt. Schon längst sind die Flutlichter im altehrwürdigen Ernst-Abbe-Sportfeld angegangen und die Partie zwischen dem FC Carl Zeiss Jena und den Offenbacher Kickers ist eigentlich schon zu Ende – es läuft die 90. Minute beim Stand von 0:0. Beide Teams hatten sich über 90 Minuten nichts geschenkt und kurz vor Schluss noch einmal richtig aufgedreht, um die wertvollen Punkte im Kampf um den Aufstieg nicht teilen zu müssen. Plötzlich vereinen sich die Stimmen der 9431 Zuschauer zu einem lauten Aufschrei! Im Laufduell Richtung Grundlinie hat der Jenaer Stürmer Melwin Holwijn den Offenbacher Verteidiger Alexander Huber überflüssigerweise an der Schulter festgehalten. Huber dreht sich wie ein Brummkreisel und landet schließlich unsanft auf der Tartanbahn. Während er noch benommen am Boden liegt, protestieren die daneben stehenden Offenbacher Auswechselspieler schon in Richtung Schiedsrichter.
Szenen wie diese, zu diesem Zeitpunkt eines so wichtigen Spiels und nach so einem Foul, können nur eines zu Folge haben: Rudelbildung! Innerhalb von Sekunden steht eine weitere Offenbacher Brust an Brust mit Holwijn und aus dem Hintergrund rauscht Torhüter Wulnikowski, der bis dahin ein super Spiel gemacht hat, heran. Wulnikowski schubst Holwijn, der nun ebenfalls zu Boden geht. Jetzt kann die Show beginnen! Alle 22 Feldspieler und die Trainer stürmen zum Ort des Geschehens! Jeder Akteur übernimmt scheinbar eine andere Aufgabe: einer provoziert, einer schiebt, manche versuchen zu schlichten und einige schubsen. Einer davon ist Sebastian Hähnge! Der Jena-Stürmer macht sich Platz indem er den Offenbacher Kopilas mit beiden Händen energisch von sich wegschiebt. Wie vom Blitz getroffen, stürzt dieser zu Boden. Zwar ist er gleich wieder auf den Beinen, aber dem überforderten Schiedsrichter, reicht wahrscheinlich allein dieser Sturz, um auf Tätlichkeit zu entscheiden. Die Folgen dieses eher überflüssigen Tumults sind verheerend: gelbe Karte Holwijn, gelbe Karte Smeekes (beide Jena), gelbe Karte Wulnikowski (Offenbach) und glatt rot für Hähnge (Jena)! Eine zum Teil eher streitbare Auslegung des Regelwerks, die eines ziemlich deutlich macht: scheinbar unbemerkt von allen Funktionären – heimlich, still und leise – entsteht auf den Fußballplätzen der Bundesrepublik gerade eine neue Regel, die in keinem Regelbuch irgendeines Fußballverbandes zu finden ist. Spieltag für Spieltag entwickelt sie sich vor den Augen tausender Zuschauer zu einem festen Bestandteil des Spiels, der schon längst nicht mehr wegzudenken ist. Die Rede ist von Schauspielerei im Fußball.
Manch einer fragt sich nun sicher, was hat die ästhetische, bisweilen recht unterhaltsame Schauspielkunst mit dem martialischen Mannschaftssport zu tun hat. Ganz einfach: sie wird von den 22 Akteuren auf dem Rasen oftmals geschickt ins Spiel eingeflochten, um sich einen Vorteil gegenüber dem Gegner zu verschaffen. Die Folgen dieses grob unsportlichen Verhaltens reichen unglaublich weit, denn häufig werden Spiele dadurch direkt oder indirekt entschieden. Oftmals harmlose Körperkontakte wirken durch einen Sturz, einen Schrei oder das Vortäuschen von Schmerzen wesentlich brutaler und zwingen den Schiedsrichter förmlich zu einer verschäfteren Reaktion. Schließlich steht die Sicherheit und Gesundheit der Spieler richtigerweise im Vordergrund. Doch zeigt ein Schiedsrichter die gelbe oder rote Karte, wenn in einem Tumult geschubst und gedrängelt wird und dabei alle Spieler aufrecht stehen bleiben? Eher selten. Wozu auch? Es besteht keine Notwendigkeit, da ja niemand „übermäßig hart oder brutal attackiert" wird (Zitat: Fußballregeln auf dfb.de). Das ändert sich natürlich schlagartig, wenn man als Geschubster mit einem schmerzerfüllten Schrei in sich zusammen sackt, denn wenn ein durchtrainierter Athlet zu Boden geht, muss ein brutaler Angriff vorausgegangen sein. Eine gelbe Karte ist somit die Folge – mindestens. Die Szenarien, die folgen können, sind verschieden. Es könnte für den Spieler die 2. gelbe Karte des Spiels sein oder die 5. der Saison, es könnte glatt rot geben oder es könnte ein Freistoß folgen, der zu einem Tor führt. Die Möglichkeiten sind endlos und verschieden, haben aber doch alle etwas gemeinsam: sie sind von Nachteil für den Gegner und kosten nichts als den Versuch. Es ist nicht einmal ein Risiko dabei, falls das Laienschauspiel doch nicht so glaubhaft rüberkommt, denn eine Strafe für übermäßiges oder zu theatralisches Empfinden von Schmerz, hat es sicherlich noch nie gegeben – weder während noch nach einem Spiel.
Und so verabschieden sich unsere Bundesligen und deren Akteure Woche für Woche mehr vom FairPlay-Gedanken und nutzen die Hilflosigkeit und Handlungsunfähigkeit der Schiedsrichter auf dem Platz schamlos aus. Aus diesem Schlamassel gibt es nur einen Ausweg: eine härtere Gangart des DFB im Umgang mit denen, die für diese Unsportlichkeiten verantwortlich sind. Der einfachste, schnellste und günstigste Weg wäre wahrscheinlich die Regeln entsprechend umzugestalten und Vereine, Spieler und auch Schiedsrichter offiziell auf dieses Problem hinzuweisen. Auch wenn Letztere während des Spiels wohl eher selten klar entscheiden können, ob Schauspielerei vorlag oder nicht, so kann der DFB auch im Nachgang eines Spiels per Videoanalyse Schauspieler entlarven und bestrafen. So wie es bei versteckten Fouls schon längst gängige Praxis ist. Zwar ist dieser Lösungsweg ein äußerst schmaler Grat, aber bei eindeutigen Situationen durchaus anwendbar. Ein weiterer Ansatz könnte sein, dass Spieler, die nach einem Foul liegen bleiben und somit das Spiel verzögern oder unterbrechen, nicht nur draußen behandelt werden, sondern auch eine Zeitsperre absitzen müssen. So könnte man die Schauspielerei ebenso eindämmen, da nun eine unmittelbare Strafe folgen würde.
Eine 100%ig sichere und funktionierende Lösung zu diesem Problem kann es allerdings nicht geben, da jede Lösung auch Nachteile in sich birgt und dadurch angreifbar wird. Ein guter Anfang wäre zumindest, wenn das Problem von offizieller Seite zunächst laut ausgesprochen und aktiv dagegen vorgegangen würde. Doch letztlich entscheiden die Sportler auf dem Rasen, ob die Schauspielerei im Fußball weiterlebt oder ob sie irgendwann ausgerottet wird, damit Fußball wieder ursprünglich, ehrlich und vor allem fair sein kann. Der Sport und die Fairness haben allerdings schlechte Karten, solange mit Schauspielerei im Fußball sportlicher Erfolg erzielt und somit auch Geld verdient werden kann.
sh