Spitzenteam statt Schießbude? Essens wundersame Wandlung
Vor zwei Wochen bretterte Rot-Weiss Essen noch mit Schallgeschwindigkeit in Richtung einer Betonwand, jetzt ist die Dabrowski-Elf plötzlich über alle Widerstände erhaben und dürfte sich für den Moment sogar Verfolger der Spitze nennen. Wie die Rot-Weissen an kleinen Stellschrauben drehten und damit den Turnaround schafften.
Plötzlich ist RWE leidenschaftlicher denn je
4:11. So lautet das Torverhältnis von Rot-Weiss Essen, bezogen auf die vergangenen vier Spiele. Klingt immer noch ganz schön mies, oder? Doch an der Hafenstraße kümmert das für den Moment niemanden. 0:9, wie war das noch gleich? Was nach der vergangenen Englischen Woche noch – völlig zurecht – als Desaster bewertet wurde, entpuppte sich als kräftiges Unwetter, das vorbeigezogen ist. Und wie das eben so ist: Irgendwann scheint wieder die Sonne, über dem Essener Norden in diesem Fall sogar ziemlich fix. Erst der 2:1-Sieg bei der Dortmunder Reserve, flankiert von 10.000 Fans, die vor elf Tagen selbst noch nervös wie gespannt waren, wohin die Reise führt. Nach dem 2:1-Erfolg über den 1. FC Saarbrücken ist, bei aller Zurückhaltung, zumindest klar: In den kommenden Wochen sollte das untere Tabellendrittel erstmal kein Thema mehr sein. Und das ist ja schon einmal viel wert.
Leidenschaft und Wille: Was so ziemlich jeder Fußballtrainer in seinem Einmaleins stehen hat und am liebsten kontinuierlich zu 110 Prozent abgerufen sähe, das hatte Christoph Dabrowski seinen Rot-Weissen gegen Saarbrücken offenbar mit Nachdruck eingetrichtert. Was war das für eine furiose, intensive Startphase! Eine, mit der RWE den vermeintlichen Aufstiegsfavoriten auf dem völlig falschen Fuß erwischte und sich bekanntlich zunächst mit dem Kopfballtor von Isaiah Young, dann mit dem Premierentreffer von Leonardo Vonic belohnte. Die zweite Halbzeit wurde dann zur Zitterpartie, aber ist nicht auch genau das eine Qualität? Essen hielt dem Saarbrücker Druck stand, ließ auch unter großer Bedrängnis kaum eine gegnerische Topchance zu und verdiente sich damit den bereits fünften Saisonsieg. 18 Punkte aus zwölf Spielen und Platz sechs, damit lässt es sich leben. Warum nicht immer so?
Flügelstürmer streben auf
Trainer Dabrowski war eine Sache wohl noch wichtiger als die tabellarische Momentaufnahme: "Es macht mich stolz, dass wir so aufgetreten sind, wie man sich RWE an der Hafenstraße vorstellt", wurde der Cheftrainer im "RevierSport“ zitiert. Genau das war notwendig, um die letzten Altlasten von der 0:5-Pleite gegen den SC Verl am gleichen Ort zu beseitigen. Die Saarbrücken-Startelf zierte übrigens vier Änderungen im Vergleich zum Verl-Spiel – und anhand dieser lässt sich der Trend bei RWE gut ausmachen: Felix Bastians wurde freigestellt, erschien offenbar als handfester Störfaktor. Felix Götze ersetzte ihn klasse. Björn Rother fehlte nochmals rotgesperrt, dürfte auf absehbare Zeit aber erstmal Herausforderer sein, zu klar ist der Vorsprung des damals verletzten neuen Kapitäns Vinko Sapina. Dazu saß Moussa Doumbouya, der kantige Stürmer mit etwas zu wenig Torgefahr, nur auf der Bank, Vonic startete für ihn. Und der aufstrebende Eric Voufack läuft Andreas Wiegel hinten rechts mit solide Leistungen allmählich den Rang ab.
Es sind nicht die einzigen Akteure, die sich derzeit Gewinner nennen dürfen. Auch Lucas Brumme sammelt als Linksverteidiger kontinuierlich Pluspunkte, Marvin Obuz zeigte gegen Saarbrücken als Flügelstürmer sein vielleicht bestes Spiel, seit ihn RWE zu Saisonbeginn vom 1. FC Köln ausgeliehen hatte. Und auch bei Wirbelwind Young, dessen Effizienzquote seit jeher das größte Manko des ansonsten so begabten US-Amerikaners ist, platzte ja endlich der Knoten. "Er betreibt oft einen großen Aufwand, hat aber die letzte Aktion vermissen lassen. Ich freue mich riesig für ihn", sagte Trainer Dabrowski über den einstigen Aufstiegshelden im "RevierSport".
Nun warten zwei Kracherspiele
Auch wenn die Breite im Kader über die Saisondistanz noch ein Problem werden könnte: Aktuell liefert Dabrowskis erste Elf wieder zuverlässig ihre Leistung, sie harmoniert gut. Und hat sich damit für die anstehenden, richtig attraktiven Spiele in eine vor zwei Wochen noch undenkbare Ausgangsposition als Tabellensechster gebracht. Denn nun geht es mit zwei Krachern weiter: Am Samstag wartet das Derby beim Letzten MSV Duisburg – alles andere als ein leichtes Los, zumal RWE in Favoritenrolle anreist und entsprechend durchaus etwas zu verlieren hat. Eine Woche drauf wartet Arminia Bielefeld: Was 2020 noch im DFB-Pokal das Duell zwischen Viert- und Erstligist war, ist nun ein Punktspiel. Überwindet Rot-Weiss Essen auch diese Hürden, nistet der Klub sich im Verfolgerfeld ein, auch wenn der souveräne Klassenerhalt das Ziel bleibt. Aber die vergangenen Wochen haben unterstrichen: Wundertüte RWE ist alles zuzutrauen. Und irgendwie ist das ja auch ziemlich reizvoll.