Strittige Szenen am 1. Spieltag: Die Analyse von Babak Rafati
Die nicht gegebenen Elfmeter für 1860, Zwickau, Köln und Freiburg II, der verwehrte Treffer von 1860, der indirekte Freistoß für Würzburg im Fünfmeterraum, eine Aktion von Strohdiek gegen Mölders, ein Zweikampf zwischen Schultz und Zimmer und das 1:1 von Dortmund II: Am 1. Spieltag hat sich Ex-FIFA-Schiedsrichter Babak Rafati für liga3-online.de elf Szenen genauer angeschaut.
Hintergrund: Babak Rafati war viele Jahre Bundesliga & FIFA Schiedsrichter. Insgesamt leitete der heute 50-Jährige 84 Erst-, 102 Zweit-, 13 Drittliga- und zahlreiche internationale Spiele. Exklusiv für liga3-online.de analysiert der erfahrene Schiedsrichter seit März 2015 jeden Spieltag die strittigen Szenen, die durch die Redaktion im Vorfeld ausgewählt werden. Zudem ist er Kolumnist und TV-Experte für Bundesliga-Spiele. Im Hauptberuf arbeitet Rafati heute als Mentalcoach für Profifußballer und Manager und ist ein viel gefragter Referent in der freien Wirtschaft, u.a. bei DAX-Unternehmen zum Thema Stressmanagement und Motivation (www.babak-rafati.de).
Szene 1: Im Strafraum geht Merveille Biankadi (1860 München) im Duell mit Leon Schneider (Würzburg) zu Fall. Einen Elfmeter gibt Schiedsrichter Franz Bokop nicht. [TV-Bilder – ab Minute 1:30:30]
Babak Rafati: Biankadi setzt sich im gegnerischen Strafraum an der Torlinie gegen Schneider durch. Dieser kann nicht mehr den Ball spielen, sodass er sein Bein in den Laufweg von Biankadi stellt und diesen dadurch zu Fall bringt. Das ist ein Foulspiel, es hätte in dieser Szene einen Strafstoß für 1860 geben müssen, sodass eine Fehlentscheidung vorliegt, weiterspielen zu lassen.
Szene 2: Nach einer Ecke verlängert Erik Tallig (1860) den Ball per Kopf auf Sascha Mölders, der das 2:0 erzielt. Bokop entscheidet jedoch auf Abseits. [TV-Bilder – ab Minute 2:25]
Babak Rafati: Auch wenn der Videobeweis in der Bundesliga bisher katastrophal funktioniert, ist dieser mit den kalibrierten Linien als Hilfsmittel zumindest für Abseitssituationen – wie in dieser Szene – ein gutes Medium und würde auch hier die Situation final auflösen. Ein Assistent kann in dieser Szene mit bloßem Auge einfach nicht erkennen, ob die Hacke vom Würzburger Verteidiger oder aber die Schulter beziehungsweise ein anderes Körperteil, mit dem Mölders ein Tor erzielen könnte, näher zur gegnerischen Torlinie ist oder nicht (Arme zählen nicht dazu). Auch ein Standbild würde nicht helfen, denn die Szene würde verzerrt dargestellt werden. Nur eine Kamera auf der entsprechenden Höhe würde final Aufschluss geben. Schlussendlich kann man die Entscheidung des Assistenten nicht zweifelsfrei bewerten, sondern nur versuchen, seine Sicht nachzuvollziehen. Womöglich hat er bei seiner Entscheidungsfindung dadurch, dass er aus seiner Position näher zu Mölders als zum Würzburger Verteidiger steht und diesen optisch zuerst wahrnimmt, diesen in Abseitsposition gesehen.
Szene 3: 1860-Keeper Tom Kretzschmar führt einen Abstoß aus und berührt den Ball dabei zweimal. Bokop gibt im Strafraum indirekten Freistoß für Würzburg. [TV-Bilder – ab Minute 2:35]
Babak Rafati: Eine durchaus kuriose Szene. Die Regel besagt, dass wenn ein Torhüter beim Abstoß den Ball zweimal spielt, die gegnerische Mannschaft einen indirekten Freistoß zugesprochen bekommt. Dabei muss der Ball mit dem Fuß gespielt worden sein und sich eindeutig bewegt haben, was in dieser Szene der Fall ist. Allerdings müssen hierbei alle Gegenspieler den Strafraum verlassen haben. Und jetzt wird es knifflig: Der Würzburger Angreifer, der in den Strafraum läuft, befindet sich zum Zeitpunkt der ersten Ballberührung durch Kretzschmar auf der Strafraumlinie, die bekanntlich zum Strafraum gehört. Somit hätte der Abstoß wiederholt werden müssen. Eine Fehlentscheidung, auf indirekten Freistoß für Würzburg zu entscheiden. Wäre der Angreifer außerhalb des Strafraumes, wäre die Entscheidung auf indirekten Freistoß zwar richtig gewesen, aber es hätte zudem die gelbe Karte gegen den Torwart geben müssen. Die Schiedsrichter sollten generell nur in klaren Fällen so etwas unterbinden und nicht bei Millimeterentscheidungen.
Szene 4: Merveille Biankadi (1860 München) geht nach einem langen Ball im Strafraum gegen Christian Strohdiek (Würzburg) zu Fall, das Spiel läuft weiter. [TV-Bilder – ab Minute 1:52:50]
Babak Rafati: Im eigenen Strafraum geht Strohdiek im Zweikampf um den Ball mit dem Körper und einer "gesunden Härte" gegen Biankadi vor. Dabei kommt es im normalen Bewegungsablauf zu einem Zusammenprall, der aber regelkonform ist und keinesfalls ein Foulspiel darstellt – auch wenn der Münchner Angreifer anschließend zu Fall kommt. Somit liegt eine richtige Entscheidung vor, weiterspielen zu lassen.
Szene 5: Christian Strohdiek (Würzburg) fasst Sascha Mölders (1860) an der Strafraumgrenze an den Hals. Der Unparteiische belässt es bei Gelb. [TV-Bilder – ab Minute 1:55:45]
Babak Rafati: Bei diesem Zweikampf an der Strafraumgrenze geht Strohdiek völlig unnötig mit der rechten Hand in Richtung Mölders‘ Gesicht und trifft ihn auch, wenn auch nur leicht. Das reicht aber aus, um ihn aus dem Rhythmus zu bringen – auch wenn er etwas mehr daraus macht. Von einem Schlag kann aber nicht die Rede sein, sodass die Entscheidung mit Freistoß und gelber Karte absolut richtig ist.
Szene 6: Im Laufduell mit Michael Schultz (Braunschweig) will Jean Zimmer (Kaiserslautern) zum Ball, geht gegen den BTSV-Verteidiger, der letzter Mann ist, aber zu Fall. Schiedsrichter Dr. Martin Thomsen pfeift nicht. [TV-Bilder – ab Minute 1:55:00]
Babak Rafati: Bei diesem Laufduell mit Zimmer spielt Schultz klar und eindeutig den Ball, sodass kein Foulspiel vorliegt. Der anschließende Treffer am Knie wäre dennoch strafbar, wenn Schultz ein sogenanntes "extra movement" vorgenommen hätte, also eine neue Bewegung, nachdem er den Ball gespielt hat. Das tut er in dieser Szene aber nicht, denn das Bein fährt im normalen Bewegungsablauf beziehungsweise im Rutschvorgang nach oben, trifft deshalb Zimmer und bringt ihn anschließend zu Fall. Eine richtige Entscheidung, weiterspielen zu lassen.
Szene 7: Im Mittelfeld setzt sich Immanuel Pherai (Dortmund II) robust im Luft-Zweikampf gegen Nils Butzen (Zwickau) durch, der zu Boden geht. Das Spiel läuft weiter, aus dem Angriff fällt das 1:1 für den BVB. [TV-Bilder – ab Minute 1:10]
Babak Rafati: Bei diesem Luft-Zweikampf im Mittelfeld springt Pherai seinen Gegenspieler Butzen an, bringt ihn dadurch zu Fall und lässt ihm somit keine Chance, zum Kopfball hochzusteigen. Es liegt ein Foulspiel vor, der anschließende Treffer hätte nicht zählen dürfen. Somit eine Fehlentscheidung.
Szene 8: Ronny König (Zwickau) wird im Strafraum von Franz Pfanne (Dortmund II) festgehalten und geht zu Fall. Schiedsrichter Nico Fuchs pfeift nicht. [TV-Bilder – ab Minute 36:40]
Babak Rafati: Bei diesem Zweikampf im Dortmunder Strafraum zwischen Pfanne und König wird natürlich auch der Gegner bearbeitet, allerdings ist die Aktion von Pfanne nicht ausreichend für einen Strafstoß, auch wenn König dies als Anlass nimmt und sich dankend fallen lässt. Ursache und Wirkung müssen immer berücksichtigt werden, doch in diesem Fall ist das "Bearbeiten" nicht ursächlich für das Zufallkommen. Eine richtige Entscheidung, weiterspielen zu lassen.
Szene 9: Nach einer Ecke für den FSV Zwickau bekommt Marco Pasalic (Dortmund II) das Spielgerät nach einem Kopfball von Steffen Nkansah (Zwickau) an den ausgestreckten Arm. Kein Elfmeter, sagt Fuchs. [TV-Bilder – ab Minute 41:15]
Babak Rafati: Pasalic bekommt beim Abwehrversuch – nach dem Kopfball von Nkansah – den Ball an den Kopf und wehrt das Spielgerät regelgerecht ab. Auch wenn durch das Ausstrecken der Arme die Vermutung nahe liegt, dass Pasalic den Ball mit dem Arm abgewehrt haben könnte, gibt es typische "Flugmuster" des Balles, die darauf hinweisen, ob ein Arm im Spiel war oder nicht. Wäre der Ball an den Arm gesprungen, wäre das Spielgerät nicht mit dieser Dynamik aus der Gefahrenzone geklärt worden, sondern würde eher herunterfallen. Somit eine richtige Entscheidung, weiterspielen zu lassen.
Szene 10: Nach einem Einwurf bekommt Jakob Lewald (Berlin) den Ball nach einer Kopfball-Verlängerung an den Arm, Schiedsrichter Florian Exner lässt weiterlaufen. [TV-Bilder – ab Minute 2:09:40]
Babak Rafati: Nach einer Kopfballverlängerung bekommt Lewald den Ball aus kurzer Entfernung gegen den Arm, der allerdings angelegt ist, sodass er für dieses Handspiel nichts kann und somit keine Absicht vorliegt. Eine richtige Entscheidung, weiterspielen zu lassen. Die FIFA hat die Handspielregel stark modifiziert. Viele Parameter wurden im Regelwerk abgeschafft, sodass wieder die Absicht maßgeblich ist und im Fokus steht. Dadurch dürfte die "Auslegungsrotation" der Schiedsrichter endgültig beendet sein und es müssten zukünftig viel weniger Hand-Strafstöße gepfiffen werden, wenn die Regel richtig umgesetzt wird.
Szene 11: Im Strafraum bekommt Gino Fechner (Wiesbaden) einen Kopfball von Sandrino Braun-Schumacher (Freiburg II) an die Hand, Schiedsrichter Robin Braun entscheidet allerdings auf Abseits und gibt keinen Elfmeter. [TV-Bilder – ab Minute 1:49:15]
Babak Rafati: Nach einem Freistoß wird der Ball mit dem Kopf in den Strafraum von Wiesbaden verlängert und kommt anschließend zu einem im Abseits stehenden Freiburger. Die Abseitsposition des Angreifers kann man sehr gut an der Fünfmeterraumlinie erkennen. Anschließend spielt Fechner den Ball absichtlich mit der Hand, was einen Handelfmeter zur Folge hätte, wenn nicht vorher die Abseitsposition vorgelegen hätte. Somit ist dieses Handspiel irrelevant und es liegt eine richtige Entscheidung vor.