Strittige Szenen am 26. Spieltag: Die Analyse von Babak Rafati
Die Rudelbildung beim Topspiel, die nicht gegebenen Elfmeter für Magdeburg, Kaiserslautern, 1860, Wiesbaden und Saarbrücken, die Strafstöße für Magdeburg, Kaiserslautern und Duisburg, die Foulspiele von Wunderlich, Kath, Haas und Ezekwem sowie eine Abwehraktion von Marco Hiller: Am 26. Spieltag hat sich Ex-FIFA-Schiedsrichter Babak Rafati für liga3-online.de 13 strittige Szenen genauer angeschaut.
Hintergrund: Babak Rafati war viele Jahre Bundesliga- & FIFA-Schiedsrichter. Insgesamt leitete der heute 50-Jährige 84 Erst-, 102 Zweit-, 13 Drittliga- und zahlreiche internationale Spiele. Exklusiv für liga3-online.de analysiert der erfahrene Schiedsrichter seit März 2015 jeden Spieltag die strittigen Szenen, die durch die Redaktion im Vorfeld ausgewählt werden. Zudem ist er Kolumnist und TV-Experte für Bundesliga-Spiele. Im Hauptberuf arbeitet Rafati heute als Mentalcoach für Profifußballer und Manager und ist ein viel gefragter Referent in der freien Wirtschaft, unter anderem bei DAX-Unternehmen zum Thema Stressmanagement und Motivation. Mehr Infos unter babak-rafati.de.
Szene 1: Mike Wunderlich (Kaiserslautern) geht rüde in einen Zweikampf mit Amara Condé (Magdeburg), Schiedsrichter Thorben Siewer belässt es bei einer Ermahnung. [TV-Bilder – ab Minute 28:10]
Babak Rafati: Wunderlich geht im Zweikampf an der Seitenlinie etwas rustikal gegen Condé zu Werke, trifft dabei aber nur den Ball. Der Schiedsrichter entscheidet daher lediglich auf Einwurf, was man so machen kann. Allerdings hätte dieser Zweikampf auch anders ausgehen können. Daher wäre es für den weiteren Spielverlauf klüger gewesen, wenn der Schiedsrichter Wunderlich zumindest angesprochen hätte (Ermahnung), beim nächsten Mal etwas vorsichtiger in den Zweikampf zu gehen. Das setzt auch ein Achtungs-Zeichen für die beteiligten Akteure. Gut wiederum, dass der Schiedsrichter angenehm und wohlwollend den Trainer beruhigt.
Szene 2: Einen Drehschuss von Terrence Boyd (Kaiserslautern) bekommt Andreas Müller (Magdeburg) im Strafraum an den Arm, das Spiel läuft weiter. [TV-Bilder – ab Minute 1:05:45]
Babak Rafati: Boyd schießt auf das gegnerische Tor. Dabei dreht sich Müller im eigenen Strafraum in den Schuss hinein und bekommt den Ball aus kurzer Entfernung an den Arm geschossen. Der Arm ist allerdings angelegt und in natürlicher Haltung, sodass kein strafbares Handspiel vorliegt. Eine richtige Entscheidung, weiterspielen zu lassen.
Szene 3: Bei einem Zweikampf mit Hikmet Ciftci (Kaiserslautern) setzt Sirlord Conteh (Magdeburg) die Arme ein und trifft seinen Gegenspieler im Gesicht. Das Spiel läuft weiter, und dem Angriff resultiert ein Elfmeter. [TV-Bilder – ab Minute 1:30:50]
Babak Rafati: Bei diesem Laufduell setzt Conteh den Ellenbogen ein, indem er kurz und ansatzlos nach hinten ausholt, dabei Ciftci ins Gesicht trifft und ihn damit aus dem Spiel nimmt, um frei in den Strafraum durchlaufen zu können. Das ist zwar kein Schlag, den man mit der roten Karte ahnden müsste, aber gewiss ein Foulspiel, bei dem der Ellenbogen als "Werkzeug" eingesetzt wird. Diese Spielweise von Conteh dient nur dazu, den Gegenspieler vom Ball fernzuhalten, damit dieser keine Chance hat, zum Ball zu gelangen. Hier hätte es, bevor es zum anschließenden Foulspiel im Strafraum und Elfmeter für Magdeburg gekommen wäre, einen Freistoß für Kaiserslautern wegen Ellenbogeneinsatz geben müssen. Eine Fehlentscheidung, dieses Vergehen von Conteh nicht zu ahnden.
Szene 4: Im Strafraum geht Mike Wunderlich (Kaiserslautern) im Duell mit Alexander Bittroff (Magdeburg) zu Fall, Siewer zeigt auf den Punkt. [TV-Bilder – ab Minute 3:20]
Babak Rafati: Bei diesem Duell im Strafraum legt sich Wunderlich den Ball zunächst etwas zu weit vor. Dabei kommt Bittroff von der Seite und geht mit der Schulter und angelegtem Arm in den Zweikampf, was aber erlaubt ist. Im Fußbereich liegt ebenso kein Vergehen vor, auch wenn Wunderlich zu Fall kommt. Das Zufallkommen resultiert daraus, dass Wunderlich selbst in den Körper von Bittroff läuft, der sich nicht in Luft auflösen kann. Somit liegt kein Foulspiel vor. Eine Fehlentscheidung, diesen Elfmeter für Kaiserslautern zu pfeifen.
Szene 5: Florian Kath (Magdeburg) kommt im Strafraum nach einem Zweikampf gegen Muhammed Kiprit (Kaiserslautern) zu Fall. Die Pfeife des Schiedsrichters bleibt stumm. [TV-Bilder – ab Minute 1:58:15]
Babak Rafati: Bei diesem Zweikampf im Strafraum will Kiprit vor seinem Gegenspieler Kath an den Ball. Kath ist allerdings einen Moment früher am Ball und spielt das Spielgerät, sodass Kiprit diesem das linke Bein – mit dem er den Ball spielen wollte – in den Weg stellt und entscheidend zu Fall bringt. Das anschließende Touchieren an der Hacke von Kath wäre allein betrachtet nicht ausreichend für ein Zufallkommen, jedoch wie beschrieben die vorangegangene Aktion. Somit hätte es einen Elfmeter für Magdeburg geben müssen. Eine Fehlentscheidung, weiterspielen zu lassen und den fälligen Elfmeter für Magdeburg nicht zu geben.
Szene 6: Florian Kath (Magdeburg) geht mit beiden Beinen voran in einen Zweikampf mit Muhammed Kiprit (Kaiserslautern) und löst damit eine heftige Rudelbildung aus. Die Folge: Während Kath mit Gelb davon kommt, fliegt FCM-Co-Trainer Silvio Bankert mit Rot vom Platz. [TV-Bilder – ab Minute 4:20]
Babak Rafati: Kath springt auf Höhe der Mittellinie mit beiden Beinen voraus zum Ball und trifft dabei nur das Spielgerät. Seinen Gegenspieler Kiprit tritt er glücklicherweise so gut wie gar nicht, sodass der Einsatz zwar rustikal, aber nicht brutal ist, sondern lediglich rücksichtslos. Somit ist die gelbe Karte eine richtige Entscheidung. Eine rote Karte gibt das Vergehen einfach nicht her, da kein "Trefferbild" vorliegt und somit eine rote Karte nicht zu rechtfertigen wäre. So eine Szene bringt natürlich Hektik ins Spiel, zumal Kriterien wie Topspiel, kurz vor Spielende, Emotionen, Zweikampf unmittelbar vor den Trainerbänken usw. die Atmosphäre aufheizen. Der Schiedsrichter entlarvt in einer anschließend unübersichtlichen Situation sehr gut Lauterns Philipp Hercher – vermutlich unter Zuhilfenahme der Assistenten -, der bei der Rudelbildung einen Gegenspieler leicht stößt.
Bei Teamoffiziellen gibt es Vergehen, die härter als bei Feldspielern geahndet werden. Der Co-Trainer von Magdeburg verlässt seine Coaching-Zone bei dieser Aktion absichtlich. Nun heißt es laut Regelwerk, wenn er dann noch beim Schiedsrichterteam protestieren will oder einen von ihnen zur Rede stellen will, erfolgt ein Feldverweis (rote Karte). Inwieweit das in dieser Szene zutrifft, kann nach den vorliegenden Fernsehbildern nicht zweifelsfrei beurteilt werden. Sicherlich liegen in dieser Szene Vergehen der Teamoffiziellen auf beiden Seiten vor. Es wäre daher besser gewesen, beide Seiten zu sanktionieren, denn auch auf Seiten der Lautrer wird heftig protestiert (nach dem Foulspiel, springen zwei Teamoffizielle hoch und laufen aus ihrer Coaching-Zone ebenfalls absichtlich heraus und protestieren beim Schiedsrichter), sodass zumindest das Gefühl mitschwingt, mit zweierlei Maß in dieser Szene geurteilt zu haben. Die gelbe Karte für Klingenburg ist nach meiner Einschätzung derweil die richtige Entscheidung. Man sieht nur ein Mitmischen von ihm. Für eine rote Karte fehlen besser nachzuweisende Bilder.
Szene 7: Jeron Al-Hazaimeh (Meppen) tritt Richard Neudecker (1860) im Strafraum auf den Fuß, einen Elfmeter gibt Schiedsrichter Christian Ballweg nicht. [TV-Bilder – ab Minute 38:25]
Babak Rafati: Beim Zweikampf im Strafraum von Meppen passt Neudecker den Ball zu einem Mitspieler. Unmittelbar danach trifft Al-Hazaimeh diesem auf den Fuß und bringt ihn zu Fall. Auch wenn der Verteidiger etwas zu spät kommt und eigentlich den Ball spielen will, liegt dennoch ein Foulspiel vor, das einen Elfmeter nach sich ziehen muss. Dieses auf den Fuß-Treten, intern als "Stempel" bezeichnet, soll von den Schiedsrichtern konsequent geahndet werden. Somit liegt eine Fehlentscheidung vor, dieses Vergehen nicht zu ahnden und den fälligen Elfmeter für 1860 nicht zu geben.
Szene 8: Nach einem langen Ball kommt Marco Hiller (1860) aus seinem Tor und wehrt den Ball ab. Meppen reklamiert Handspiel außerhalb des Strafraums. Das Spiel läuft weiter. [TV-Bilder – ab Minute 1:35]
Babak Rafati: Bei dieser Handabwehr von Keeper Hiller an der Strafraumgrenze berührt dieser den Ball tatsächlich auf der Strafraumlinie, die aber bekanntlich zum Strafraum gehört, sodass kein regelwidriges Spiel von Hiller vorliegt. Somit eine richtige Entscheidung, weiterspielen zu lassen. Von entscheidender Bedeutung ist, an welchem Ort der Ball die Hand des Torhüters verlässt. Man muss fairerweise zugeben, dass solch eine Szene noch nicht einmal anhand der Zeitlupen zu 100 Prozent aufzulösen ist, geschweige denn für die Schiedsrichter im normalen Spielablauf auf dem Platz. Daher ist es unmöglich, derartige Szenen auf dem Platz zu sehen und entsprechend zu ahnden. Vielmehr muss auch ein Schiedsrichter bei manchen kniffligen Szenen aus dem Bauch heraus entscheiden, was in dieser Situation gut gelingt.
Szene 9: John Yeboah (Duisburg) geht im Strafraum nach einer Grätsche von Tobias Kraulich (Würzburg) zu Fall, Schiedsrichter Franz Bokop gibt Elfmeter für den MSV. [TV-Bilder – ab Minute 1:55]
Babak Rafati: Bei diesem Abwehrversuch von Kraulich im eigenen Strafraum spitzelt er Yeboah den Ball mit einem sauberen Tackling vom Fuß – zwar nur minimal, aber dennoch entscheidend. Erst danach kommt Yeboah über das ausgestreckte Bein von Kraulich, mit dem zuvor der Ball gespielt wurde, zu Fall. Somit ist die Attacke ballorientiert, sodass kein Foulspiel vorliegt. Es hätte daher keinen Elfmeter für Duisburg geben dürfen, sodass eine Fehlentscheidung vorliegt.
Szene 10: Tobias Jänicke (Saarbrücken) dringt in den Strafraum ein und wird von Ahmet Gürleyen (Wiesbaden) am Trikot festgehalten. Kein Elfmeter, sagt Schiedsrichter Michael Bacher. [TV-Bilder – ab Minute 1:35]
Babak Rafati: Jänicke dringt in den gegnerischen Strafraum ein und wird dabei von seinem Gegenspieler Gürleyen bearbeitet, wobei dieses Bearbeiten – Arm am gegnerischen Körper – branchenüblich und daher im Bereich des Erlaubten ist. Auch wenn Jänicke etwas aus der Balance kommt und anschließend den Ball nicht wie gewünscht auf das Tor bringen kann, liegt kein Foulspiel vor. Eine richtige Entscheidung, diesen Zweikampf zu tolerieren und weiterspielen zu lassen, da kein klares Vergehen vorliegt und für einen Elfmeter allemal nicht ausreicht.
Szene 11: Im Strafraum kommt Lucas Brumme (Wiesbaden) an den Ball und geht im Duell mit Dominik Ernst (Saarbrücken) zu Fall. Die Pfeife des Schiedsrichters bleibt stumm. [TV-Bilder – ab Minute 2:05]
Babak Rafati: Brumme wird im gegnerischen Strafraum angespielt und legt sich den Ball vor. Dabei kommt Ernst im Zweikampf hinzu und will auch an den Ball heran, trifft aber nur noch den Fuß von Brumme – weil er zu spät kommt – und bringt Brumme entscheidend zu Fall. Das ist ein Foulspiel, und es hätte einen Elfmeter für Wiesbaden geben müssen. Eine Fehlentscheidung, diesen fälligen Elfmeter nicht zu geben.
Szene 12: Für ein rüdes Foul an Simon Handle (Köln) kommt Manuel Haas (Osnabrück) mit Gelb davon. [TV-Bilder – ab Minute 1:55:35]
Babak Rafati: Nachdem Handle sich den Ball an Gegenspieler Haas vorbeilegt, will Haas sicherlich zum Ball, trifft seinen Gegenspieler mit dem ausgestreckten Fuß und den Stollen voraus aber von hinten in die Hacken und bringt ihn zu Fall. Das ist ein brutales Spiel und nimmt eine Gefährdung der Gesundheit des Gegenspielers in Kauf, sodass es nur die rote Karte geben kann. Das wird der Schiedsrichter sicherlich auch nach Sichtung der TV-Bilder selbst eingesehen haben. Eine Fehlentscheidung, die fällige rote Karte nicht zu zeigen.
Szene 13: Für einen Bodycheck gegen Christopher Theisen (Berlin) sieht Cottrell Ezekwem (Verl) von Schiedsrichter Patrick Glaser nur Gelb. [TV-Bilder – ab Minute 48:25]
Babak Rafati: Beim Laufduell außerhalb des Blickfeldes des Schiedsrichters und ein paar Meter fernab vom Ballort, verpasst Ezekwem seinem Gegenspieler Theisen einen Bodycheck und bringt ihn zu Fall. Diese Aktion ist nur gegen den Gegner gerichtet und hat nichts mit Kampf um den Ball zu tun. Wäre die Aktion im Kampf um den Ball gewesen, wäre die gelbe Karte angemessen. Aber in dieser Szene ist die Aktion ohne Ball – mit Intensität und in den Magenbereich – einfach nicht mehr rücksichtslos, sondern rüde und brutal, so dass die rote Karte angebracht wäre. Theisen muss für dieses Vergehen auch länger behandelt werden. Eine Fehlentscheidung, eine rote Karte nicht zu zeigen. Der Schiedsrichter hat aber auch keine Chance, diese Aktion zu sehen. Deshalb pfeift er 4 Sekunden später nach der Aktion ab und zeigt Ezekwem intuitiv die gelbe Karte. Auch wenn eine Fehlentscheidung vorliegt, die man dem Schiedsrichter aber nicht vorwerfen kann, löst er die Situation m.E. trotzdem gut. Wenn die Szene gar nicht geahndet wäre, hätte es Folgen auf das Spielerverhalten haben können, was im späteren Spielverlauf Hektik bei den Spielern – in Form von Revanche – auslösen kann. Das hat nichts mit "Auf-Verdacht-Pfeifen" zu tun, sondern mit klugem Spielmanagement. Erfahrene Schiedsrichter machen von diesem "Werkzeug" oft Gebrauch.
Weiterlesen: Wer bisher am häufigsten benachteiligt wurde