Strittige Szenen am 27. Spieltag: Die Analyse von Babak Rafati
Die nicht gegebenen Tore für Essen, der Treffer für Essen, die verwehrten Elfmeter für Essen, Halle, Mannheim, 1860 und Dresden, der Strafstoß für Mannheim, das 2:1 von Halle, die Platzverweise gegen Bayreuths Andermatt und Saarbrückens Gaus, das 4:2 von Freiburg II sowie ein Foulspiel von Osnabrücks Gyamfi. Am 27. Spieltag hat sich Ex-FIFA-Schiedsrichter Babak Rafati für liga3-online.de 14 strittige Szenen genauer angeschaut.
Hintergrund: Babak Rafati war viele Jahre Bundesliga- & FIFA-Schiedsrichter. Insgesamt leitete der heute 52-Jährige 84 Erst-, 102 Zweit-, 13 Drittliga- und zahlreiche internationale Spiele. Exklusiv für liga3-online.de analysiert der erfahrene Schiedsrichter seit März 2015 jeden Spieltag die strittigen Szenen, die durch die Redaktion im Vorfeld ausgewählt werden. Zudem ist er Kolumnist und TV-Experte für Bundesliga-Spiele. Im Hauptberuf arbeitet Rafati heute als Mentalcoach für Profifußballer und Manager und ist ein viel gefragter Referent in der freien Wirtschaft, unter anderem bei DAX-Unternehmen zum Thema Stressmanagement und Motivation. Mehr Infos unter babak-rafati.de.
Szene 1: Nach einem Freistoß trifft Felix Herzenbruch nach Vorlage von Felix Bastians zum 1:1 für Essen. Allerdings soll Bastians im Abseits gestanden haben, sodass Schiedsrichter Richard Hempel den Treffer nicht gibt. [TV-Bilder – ab Minute 1:45:35]
Babak Rafati: Zum Zeitpunkt der Freistoßausführung steht Osnabrücks Gyamfi mit seinem Torwart näher zur Torlinie als Rother von Essen. Somit liegt keine Abseitsposition vor. Das ist sehr gut an der Entfernung der beiden Spieler zur Strafraumlinie erkennbar. Wenn Rother in einer Abseitsposition gestanden hätte, dann würde durch das Stören des gegnerischen Verteidigers, der anschließend zu Boden geht (kein Foulspiel), eine strafbare Abseitsposition entstehen, weil er aktiv ins Spielgeschehen eingreifen würde. In diesem Fall steht er aber erst gar nicht in einer möglichen Abseitsposition, sodass eine Fehlentscheidung vorliegt, den Treffer nicht anzuerkennen. Auch nach dem Weiterköpfen auf den anschließenden Torschützen liegt keine Abseitsposition vor. Die Frage, ob der Schiedsrichter womöglich auf Foulspiel entschieden haben könnte, ist klar zu verneinen. Zum einen, weil gar kein Foulspiel vorliegt und zum anderen, weil der Schiedsrichter bei der anschließenden Spielfortsetzung den Arm gehoben hat, was signalisiert, dass es einen indirekten Freistoß gibt. Und damit anders als bei Foulspielen, auf die immer ein direkter Freistoß folgt.
Szene 2: Im Anschluss an einen Einwurf geht Sven Köhler (Osnabrück) gegen Felix Bastians (Essen) zu Fall, das Spiel läuft weiter. Direkt danach trifft Ennali zum Ausgleich. [TV-Bilder – ab Minute 2:15]
Babak Rafati: Auch wenn Bastians mit einem robusten Körpereinsatz im Zweikampf gegen Köhler zu Werke geht und dieser anschließend zu Fall kommt, ist alles regelkonform. Natürlich spürt der Verteidiger, dass er von hinten angegangen wird. Er hilft allerdings selbst ein bisschen mit und kommt zu Fall. Es liegt aber kein Stoßen, kein Wegschieben oder ähnliches vor. Derartig körperbetonte Zweikämpfe gehören zu einem Fußballspiel einfach dazu. Somit liegt eine richtige Entscheidung vor, das Spiel weiterlaufen zu lassen und den anschließenden Treffer anzuerkennen.
Szene 3: Lawrence Ennali (Essen) bekommt im Strafraum einen Stoß von Maxwell Gyamfi (Osnabrück) und geht zu Boden, die Pfeife des Schiedsrichters bleibt stumm. Kurz danach trifft Bastians zum 2:1, allerdings wird erneut auf Abseits entschieden. [TV-Bilder – ab Minute 1:53:15]
Babak Rafati: Beim Zweikampf im Strafraum zwischen Gyamfi und Ennali bearbeitet der Verteidiger den Angreifer zwar, aber auch hier liegt kein Wegschieben, Stoßen oder ähnliches Vergehen vor. Der Angreifer spürt einen Kontakt im Rücken, nimmt diesen dankend an und geht zu Boden. Eine richtige Entscheidung, auch hier weiterspielen zu lassen und keinen Elfmeter zu geben.
Bei der anschließenden Frage nach der Abseitsstellung bräuchte man eine kalibrierte Linie, wie wir sie aus der Bundesliga kennen, um die vermeintliche Abseitsposition zweifelsfrei auflösen zu können. Allerdings liegt für mich tendenziell keine Abseitsposition von Bastians vor. Bei den gegenläufigen Bewegungen – die Angreifer laufen rein und die Verteidiger laufen heraus – kommt es kurz nach dem Abspiel zu Verschiebungen, sodass innerhalb kurzer Zeit ein anderes Bild entsteht als zum Zeitpunkt des Abspiels, der maßgeblich für eine Abseitsbewertung ist.
Szene 4: Bei einem Laufduell an der Seitenlinie bekommt Lawrence Ennali (Essen) den Ellenbogen von Maxwell Gyamfi (Osnabrück) ins Gesicht. Hempel belässt es bei Gelb. [TV-Bilder – ab Minute 2:19:45]
Babak Rafati: Man sieht bei diesem Laufduell zwischen Gyamfi und Ennali, dass der Osnabrücker den Arm nicht in einer natürlichen Bewegung hat, sondern diesen kurz herausnimmt, um den Gegner zu stoppen. Dabei trifft er mit diesem Arm dem Essener im Gesicht, sodass ein Foulspiel vorliegt, was vollkommen zurecht mit der gelben Karte sanktioniert wird. Allerdings liegt kein Schlag (Fachbegriff weapon, engl.:Waffe) vor, vielmehr wird der Arm als Werkzeug (tool), wie es im Fachjargon ausgedrückt wird, eingesetzt.
Szene 5: Auf dem Weg zum Tor kommt Nico Hug (Halle) gegen Patrick Koronkiewicz (Köln) im Strafraum zu Fall, einen Elfmeter gibt Schiedsrichter Patrick Hanslbauer nicht. [TV-Bilder – ab Minute 1:25]
Babak Rafati: Bei diesem Duell im Strafraum wollen Hug und Koronkiewicz gleichzeitig zum Ball, bewegen ihre Beine gleichzeitig zum Ball, kollidieren gegenseitig mit den Beinen und kommen gleichermaßen zu Fall. Dabei ist keinem der Beiden ein Verschulden vorzuwerfen, sodass eine korrekte Zweikampfführung und final eine richtige Entscheidung vorliegt, weiterspielen zu lassen.
Szene 6: Nach einer Ecke hat Köln-Keeper Ben Voll beide Hände am Ball, dennoch schießt Dominik Steczyk (Halle) das Spielgerät ins Tor. Der Treffer zählt. [TV-Bilder – ab Minute 3:05]
Babak Rafati: Keeper Voll hat beim Abwehrversuch beide Hände am Ball, auch wenn er den Ball dabei nicht kontrolliert oder festhält, sodass das Spielgerät von einem Gegenspieler nicht gespielt werden darf. Regeltechnisch reicht es sogar aus, wenn der Keeper eine Hand am Ball hat. Dann ist der Ball für den Gegner nicht spielbar. Gegenspieler Steczyk tut das dennoch und befördert den Ball in dieser Aktion regelwidrig ins gegnerische Tor. Somit hätte das Tor nicht zählen dürfen, sodass eine Fehlentscheidung vorliegt.
Szene 7: Im Strafraum kommt Meris Skenderovic (1860) gegen Luca Dürholtz (Elversberg) zu Fall, einen Elfmeter gibt Schiedsrichter Christian Ballweg nicht. Stattdessen sieht Skenderovic Gelb wegen einer vermeintlichen Schwalbe. [TV-Bilder – ab Minute 3:15]
Babak Rafati: Bei diesem Zweikampf im Strafraum spielt Skenderovic den Ball an Gegenspieler Dürholtz vorbei. Dieser lässt das Bein stehen und bringt ihn dadurch zu Fall. Der Kontakt ist sehr gut erkennbar, weil das Bein vom Angreifer zum Zeitpunkt des Treffers durch den Verteidiger sichtbar nach hinten geht und somit verdeutlicht, dass ein Nicht-Kontakt wegen des Fallmusters überhaupt nicht möglich ist. Hier hat es den entscheidenden Kontakt gegeben, der zum Foulspiel führt und den Angreifer aus dem Gleichgewicht bringt. In dieser Szene hätte es somit einen Elfmeter statt einer Schwalbe und die gelbe Karte gegen den Angreifer geben müssen. Eine Fehlentscheidung, den Elfmeter nicht zu geben.
Szene 8: Auf dem Weg zum Tor geht Martin Kobylanski (1860) im Duell mit SVE-Keeper Nicolas Kristof (Elversberg) zu Boden. Erneut gibt es keinen Elfmeter. [TV-Bilder – ab Minute 3:25]
Babak Rafati: Bei diesem Strafraumduell kommt Keeper Kristof aus seinem Tor heraus und riskiert mit seinem Einsatz gegen Kobylanski ein mögliches Foulspiel. Allerdings spielt er den Ball, nachdem der Angreifer den Ball kurz vorher angetickt, aber nicht entscheidend am Keeper vorbeigelegt hat, und kann die Aktion ohne Foulspiel klären. Dass es dann zum Zusammenstoß kommt, ist irrelevant, da dieser im normalen Bewegungsablauf passiert. Zudem hebt der Angreifer selbst vorher ab. Eine richtige Entscheidung, weiterspielen zu lassen.
Szene 9: Nach einem Missverständnis mit seinem Keeper bringt Nico Andermatt (Bayreuth) Gegenspieler Marvin Cuni (Saarbrücken) kurz vor dem Strafraum zu Fall. Schiedsrichter Timo Gerach zeigt glatt Rot. [TV-Bilder – ab Minute 0:30]
Babak Rafati: Bei dieser Szene springt Andermatt völlig unkontrolliert (beide Beine nicht mehr am Boden) und brutal mit offener Sohle in die Beine von Cuni und bringt ihn rüde zu Fall. Mit dieser Spielweise wird die Gesundheit des Gegenspielers gefährdet. Zudem wird Cuni eine offensichtliche Torchance genommen, da er nur noch den Torwart vor sich hätte und die anderen Verteidiger nicht mehr entscheidend hätten eingreifen können. Somit liegen theoretisch zwei Vergehen für eine rote Karte vor, sodass die Entscheidung absolut richtig ist.
Szene 10: Alexander Nollenberger (Bayreuth) wird von Marcel Gaus (Saarbrücken) abgeräumt, erneut gibt es Rot. [TV-Bilder – ab Minute 2:35]
Babak Rafati: Bei einem Laufduell auf der linken Außenbahn legt sich Nollenberger den Ball vor und erläuft sich eine gute Angriffssituation. Dabei kommt Gaus mit voller Dynamik angelaufen und grätscht mit offener Sohle in die Beine des Gegenspielers. Dabei trifft er ihn in brutaler Weise in die Füße, sodass auch in dieser Szene die Gesundheit des Gegenspielers gefährdet wird. Bei solch einem Trefferbild gibt es keine zwei Meinungen. Erneut eine richtige Entscheidung, ohne zu zögern die rote Karte zu zeigen. Prima ist die einheitliche Regelauslegung auf beiden Seiten, die eine besondere Akzeptanz bei allen Beteiligten schafft. Kompliment!
Szene 11: Denis Linsmayer (Ingolstadt) fälscht einen Schuss von Marten Winkler (Mannheim) im Strafraum mit dem Arm ab. Einen Elfmeter gibt es nicht.
Babak Rafati: Winkler schießt auf das Tor, und Linsmayer nimmt im Strafraum bewusst den Arm heraus und spreizt ihn ab, sodass er seine Körperfläche vergrößert und dabei ein strafbares Handspiel begeht. Das hat nichts mit natürlicher Körperhaltung zu tun, sodass es in dieser Szene hätte einen Elfmeter geben müssen. Eine Fehlentscheidung, diesen nicht zu geben.
Szene 12: Im Strafraum kommt Daniel Keita-Ruel (Mannheim) gegen Donald Nduka (Ingolstadt) zu Fall, Schiedsrichter Lukas Benen zeigt auf den Punkt. [TV-Bilder – ab Minute 2:25]
Babak Rafati: Bei diesem Zweikampf im Strafraum zwischen Keita-Ruel und Nduka läuft Keita-Ruel dem Ball entgegen und will das Spielgerät aus einer guten Position auf das Tor bringen. Dabei rempelt ihn Nduka mit dem Körper in heftiger Weise von hinten zu Boden. Dieser Einsatz ist nur gegnerorientiert und überschreitet die Grenze des Erlaubten, sodass ein Foulspiel vorliegt und es zurecht einen Elfmeter gibt. Die gelbe Karte zu zeigen, ist ebenso eine richtige Entscheidung, da der Angreifer den Ball nicht kontrolliert und somit ein Kriterium für eine Notbremse, die zu einer roten Karte führen würde, nicht gegeben ist.
Szene 13: Im Anschluss an einen Dynamo-Einwurf bekommt Marvin Senger (Duisburg) den Ball im Strafraum an den Arm. Schiedsrichter Patrick Kessel lässt weiterlaufen. [TV-Bilder – ab Minute 57:40]
Babak Rafati: Nach einem langen Einwurf wird der Ball per Kopf weitergeleitet und springt von da aus klar an den Arm von Senger. Da aber die Entfernung vom Kopfball zu Senger sehr kurz und zudem der Arm von Senger angelegt ist, liegt kein absichtliches Handspiel vor. Somit eine richtige Entscheidung, in dieser Szene weiterspielen zu lassen. Wäre der Ball direkt vom Einwurf und ohne Berührung zu Senger geflogen, dann würde eine große Entfernung vorliegen und Senger hätte genug Zeit den Arm wegzuziehen, so dass dann ein absichtliches Handspiel vorliegen würde. Nicht aber in diesem Fall.
Szene 14: Nach einem Zuspiel von Mika Baur läuft Davino Knappe alleine auf das Tor zu und legt auf Julian Guttau ab, der zum 4:2 für Freiburg trifft. Wiesbaden reklamiert bei Schiedsrichter Sven Waschitzki-Günther Abseits, der Treffer zählt. [TV-Bilder – ab Minute 3:35]
Babak Rafati: Zum Zeitpunkt des Abspiels von Baur auf Knappe steht dieser knapp im Abseits, da der Verteidiger es rechtzeitig schafft, aufzurücken. Der Stürmer ist mit der rechten Schulter näher zur gegnerischen Torlinie als der Verteidiger mit der linken Hacke. Somit hätte der anschließende Treffer von Guttau nicht zählen dürfen, sodass eine Fehlentscheidung vorliegt. Erwähnenswert ist allerdings, dass die Assistenten die Anweisung haben, im Zweifel für den Angreifer laufen zu lassen, was in dieser Szene auch richtigerweise erfolgt. Dass der Assistent Zweifel hatte, ist berechtigt, da die Szene wirklich sehr knapp ist, so dass ihm kein Vorwurf für diese Entscheidung gemacht werden kann.
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