Strittige Szenen am 9. Spieltag: Die Analyse von Babak Rafati
Das 1:0 für Münster, die nicht gegebenen Elfmeter für Münster, Rostock und Braunschweig, das Wechsel-Chaos in Halle, der verwehrte Treffer für Jena, das 3:2 für Chemnitz, die nicht gegebenen Platzverweise für Neidhart, Willers und Welzmüller und die gelb-rote Karte für Undav. Am 9. Spieltag hat sich Ex-FIFA-Schiedsrichter Babak Rafati für liga3-online.de 13 Szenen genauer angeschaut.
[box type="info"]Hintergrund: Babak Rafati war viele Jahre Bundesliga & FIFA Schiedsrichter. Insgesamt leitete der heute 48-Jährige 84 Erst-, 102 Zweit-, 13 Drittliga- und zahlreiche internationale Spiele. Exklusiv für liga3-online.de analysiert der erfahrene Schiedsrichter jeden Spieltag die strittigen Szenen, die durch die Redaktion im Vorfeld ausgewählt werden. Zudem ist er Kolumnist und TV-Experte für Bundesliga-Spiele. Im Hauptberuf ist Rafati heute Mentalcoach für Profifußballer und Manager sowie ein viel gefragter Referent in der freien Wirtschaft, u.a. bei DAX-Unternehmen zum Thema Stressmanagement und Motivation (www.babak-rafati.de).[/box]
Szene 1: Seref Özcan (Preußen Münster) legt den Ball für Teamkollege Heinz Mörschel quer, der Stürmer trifft zur Führung für die Gäste – aus Abseitsposition? Schiedsrichter Michael Bacher gibt den Treffer. [TV-Bilder – ab Minute 1:20:00]
Babak Rafati: Normalerweise braucht man kalibrierte Linien (wie wir sie aus der Bundesliga kennen), um zweifelsfrei ein Urteil fällen zu können. Für den Assistenten ist es sehr schwierig, diese Millimeterentscheidungen zu sehen. Daher lautet die Devise, im Zweifel für den Angreifer laufen zu lassen. Aber in diesem Fall sieht man recht gut an der Rasenmarkierung, dass Mörschel zum Zeitpunkt des Zuspiels vom Mitspieler Özcan mit der rechten Fußspitze im Abseits steht. Somit eine Fehlentscheidung, diesen Treffer für Münster anzuerkennen.
Szene 2: Luca Schnellbacher (Preußen Münster) will den Ball im gegnerischen Strafraum an Sebastian Mai (Hallescher FC) vorbeilegen, der die Kugel dabei im Liegen mit der Hand berührt. Kein Elfmeter für Münster. [TV-Bilder – ab Minute 1:25]
Babak Rafati: Schnellbacher will den Ball an Mai vorbeilegen. Dieser grätscht ins Leere und spielt dabei den Ball mit der Hand. Man sieht sehr gut, dass der Arm von Mai nicht in natürlichem Bewegungsablauf ist, sondern die Hand im letzten Moment reflexartig zum Ball geht und diesen berührt. Der Schiedsrichter hat eine sehr gute Sicht auf diese Situation, lässt aber weiterspielen. Hier hätte es einen Strafstoß für Münster wegen absichtlichen Handspiels geben müssen. Eine Fehlentscheidung, weiterspielen zu lassen.
Szene 3: Bei einem Einwurf für Münster will HFC-Trainer Torsten Ziegner auswechseln. Neben Terrence Boyd geht jedoch auch Pascal Sohm vom Platz. Sobald dieser das Feld irrtümlicherweise verlassen hatte, wird das Spiel wieder freigegeben, aus dem Angriff der Gäste resultiert der 2:2-Ausgleich. [TV-Bilder – ab Minute 1:55:00]
Babak Rafati: In dieser Szene wollen beide Mannschaften gleichzeitig auswechseln. Die Auswechslung bei Münster geht reibungslos über die Bühne. Bei der Auswechslung von Halle läuft aber einiges schief. Dadurch, dass auch Münster die Nr. 9 auswechseln will und dieser Vorgang auf der Auswechseltafel angezeigt wird, glauben der Schiedsrichter sowie die Nr. 9 von Halle (Sohm), dass dieser hinaus soll. Daher will Sohm den Platz verlassen. Der Schiedsrichter signalisiert ihm lediglich den kürzesten Weg zu nehmen und zeigt ihm, an welcher Stelle er den Platz verlassen soll.
Hier ist ein Missverständnis entstanden, wobei ein Kommunikationsproblem nicht allein beim Schiedsrichter zu suchen ist. Sohm hätte ja auf dem Platz bleiben können. Anders wäre der Sachverhalt, wenn der Schiedsrichter Sohm aufgefordert und dieser trotz Weigerung den Platz verlassen hätte. Der Schiedsrichterassistent hätte allerdings auch bemerken müssen, dass etwas komisch ist. Allerdings ist final der Schiedsrichter der Entscheidungsträger. Dieser winkt Washausen offensichtlich herein. Und als dieser auf den Platz kommt, ist die Auswechslung regeltechnisch korrekt vollzogen. Boyd, der ursprünglich ausgewechselt werden sollte, spielt hierbei keine Rolle mehr – auch, wenn er zum Zeitpunkt der Torerzielung nicht mehr auf dem Platz stand.
Der Schiedsrichter verhält sich jedoch unklug, in dem er Washausen nicht die nötige Zeit gibt sich nach hinten zu orientieren. Ein Regelverstoß liegt aber nicht vor. Dieser würde zum Beispiel dann vorliegen, wenn eine Mannschaft ein Tor mit 12 Spielern auf dem Platz erzielen würde.
Ich kann den Ärger der Beteiligten natürlich absolut nachvollziehen. So wie sich der Fall für mich darstellt, liegt ein Kommunikationsproblem und ein unerklärlicher, taktischer Fehler des Schiedsrichters vor, aber kein Regelverstoß. Zukünftig sollten alle Beteiligten etwas sensibler mit Auswechslungen umgehen. Die neue Auswechsel-Regel hat zwar den Vorteil, dass Zeitspiel unterbunden wird, sie bringt aber auch den Nachteil mit sich, dass die Beteiligten sehr schnell die Übersicht verlieren können, wie man es hier gesehen hat.
Szene 4: Nach einem Zuspiel aus dem Mittelfeld startet Niklas Jahn (Carl Zeiss Jena) frei durch und erzielt den 3:1-Treffer für die Gäste. Schiedsrichter Manuel Gräfe entscheidet jedoch auf Abseits. [TV-Bilder – ab Minute 1:35]
Babak Rafati: Zum Zeitpunkt des Zuspiels auf Jahn steht der Assistent nicht optimal zum Geschehen. Optimal wäre, wenn er auf Höhe des vorletzten Abwehrspielers positioniert wäre, wobei der Torwart der letzte Verteidiger ist. Stattdessen steht er etwa einen Meter vom vorletzten Verteidiger nach vorne versetzt. Das kann man sehr gut an der Rasenmarkierung erkennen. Dadurch hat der Assistent einen verzerrten Blick auf die Szene und erkennt nicht, dass der Verteidiger in seiner Nähe das Abseits aufhebt. In dieser Szene zeigt sich, wie wichtig die optimale Position des Assistenten für eine richtige Abseits-Entscheidung ist. Hätte der Assistent exakt auf der richtigen Höhe gestanden, hätte er auf einer Linie sehen können, dass alles regelgerecht war. Der Treffer für Jena hätte somit zählen müssen, sodass eine Fehlentscheidung vorliegt.
Szene 5: Paul Milde (Chemnitzer FC) schlägt eine Flanke in den Jena-Strafraum, Noah Awuku köpft in der Mitte zum 2:2-Ausgleich ein. Zuvor kam es zwischen Abwehrspieler Eroll Zejnullahu (Carl Zeiss Jena) und Awuku zu einem Kontakt, sodass dieser zu Boden ging. Der Treffer zählt dennoch. [TV-Bilder – ab Minute 1:50]
Babak Rafati: Bei diesem Zweikampf im Strafraum von Jena kann kein entscheidender Schubser von Awuku gegen Zejnullahu ausgemacht werden, sodass im Oberkörperbereich alles sauber erscheint. Die berechtigte Frage stellt sich natürlich, warum der Verteidiger zu Fall kommt. Ein Verteidiger wird sich in diesem Gefahrenbereich sicherlich nicht einfach fallen lassen, um auf einen Freistoß zu spekulieren. Es kann sein, dass sich die Beine im Fußbereich kreuzen, hier ein Kontakt da ist und der Verteidiger dadurch zu Fall kommt. Das pfeift man aber nicht, weil es im normalen Bewegungsablauf passiert. Anders wäre es, wenn ein Spieler zwar unabsichtlich, aber ungeschickt zu Werke geht. Dann liegt ein Foulspiel vor. Eine richtige Entscheidung, das anschließende Tor für Chemnitz anzuerkennen.
Szene 6: Nils Butzen (Hansa Rostock) und Fabio Viteritti (FSV Zwickau) gehen im Strafraum der Zwickauer gleichzeitig zum Ball. Der Rostocker scheint einen Tick schneller zu sein und spitzelt den Ball weg, sodass Viteritti ihm auf den Fuß tritt. Butzen fällt, Schiedsrichter Florian Exner entscheidet gegen einen Elfmeter. [TV-Bilder – ab Minute 2:20]
Babak Rafati: Butzen ist im gegnerischen Strafraum einen Moment schneller am Ball, wird anschließend von Viteritti am Fuß getroffen und zu Fall gebracht. Diese Aktion von Viteritti ist sicherlich unabsichtlich und vielmehr der Tatsache geschuldet, dass er einfach einen Moment zu spät kommt und nicht mehr den Ball, sondern seinen Gegenspieler trifft. Dabei spielt die Absicht keine Rolle. Hier hätte es daher einen Strafstoß für Rostock geben müssen, sodass eine Fehlentscheidung vorliegt, weiterspielen zu lassen.
Szene 7: Nach einer Hansa-Ecke startet Morris Schröter (FSV Zwickau) zum Konter. Nachdem er Nikolas Nartey abgeschüttelt hat, stellt sich ihm der bereits verwarnte Nico Neidhart (Hansa Rostock) in den Weg. Der lässt das Bein stehen, Schröter fällt, Exner pfeift taktisches Foulspiel – es gibt aber keine Gelb-Rote für Neidhart. [TV-Bilder – ab Minute 1:45:50]
Babak Rafati: Schröter läuft auf der rechten Außenbahn und legt sich den Ball vor, nachdem er bereits einen Gegenspieler ausgespielt hat. Als er auch an Neidhart vorbeilaufen und einen guten Angriff einleiten will, stellt dieser sein Knie in den Weg und bringt ihn dadurch zu Fall. Das ist ein klassisches taktisches Foulspiel und dafür ist zwingend eine gelbe Karte zu zeigen. Da Neidhart bereits verwarnt war, hätte es folgerichtig die gelb-rote Karte geben müssen. Eine Fehlentscheidung, es bei einer Ermahnung zu belassen und Neidhart nicht vom Platz zu stellen.
Szene 8: Rasmus Pedersen (Hansa Rostock) bekommt den Ball am Strafraum zugespielt und will zurück in die Mitte flanken. Aus kurzer Distanz bekommt Maurice Hehne (FSV Zwickau) den Ball an den Unterarm, es gibt wieder keinen Elfmeter. [TV-Bilder – ab Minute 1:52:35]
Babak Rafati: Pedersen schießt Hehne den Ball im gegnerischen Strafraum aus kurzer Distanz an den Arm, der in natürlicher Haltung ist und keine aktive Bewegung zum Ball macht. Bei dieser Szene sind alle Kriterien für eine Nichtabsicht gegeben, sodass eine richtige Entscheidung vorliegt, weiterspielen zu lassen. Der Schiedsrichter vermittelt anschließend per Körpersprache den genauen Vorgang sehr sachlich für alle Beteiligte und Zuschauer. Eine prima Außendarstellung.
Szene 9: Im gegnerischen Strafraum lässt Robin Ziegele (Eintracht Braunschweig) zunächst Dominik Lanius stehen. Im zweiten Abwehrversuch trifft dann Lars Dietz (Viktoria Köln) das Standbein des Braunschweigers und bringt diesen zu Fall. Schiedsrichter Wolfgang Haslberger lässt das Spiel weiterlaufen. [TV-Bilder – ab Minute 1:10]
Babak Rafati: Ziegele legt sich den Ball im gegnerischen Strafraum an Dietz vorbei und will sich in eine gute Position bringen. Dietz läuft dabei ins Leere und kann ihn nur noch regelwidrig stoppen, indem er ihn klar und deutlich am linken Fuß trifft und zu Fall bringt. Der Schiedsrichter hat eine optimale Position und freie Sicht auf die Szene und kann den Vorgang somit genau beobachten. Er entscheidet jedoch auf Weiterspielen. Eine Fehlentscheidung, denn hier hätte es einen Strafstoß für Braunschweig geben müssen.
Szene 10: Der Ball befindet sich im Mittelkreis, als Tobias Willers (Viktoria Köln) abseits des Spielgeschehens den Ellenbogen gegen Kevin Goden (Eintracht Braunschweig) ausfährt und ihn im Gesicht trifft. Haslberger sieht die Szene nicht, sodass die Situation nicht geahndet wird. [TV-Bilder – ab Minute 1:35]
Babak Rafati: Der Schlag von Willers mit dem Ellenbogen in das Gesicht von Goden ist eine klare Tätlichkeit. So etwas hat auf dem Platz nichts zu suchen. Dadurch, dass dieser Schlag abseits des Spielgeschehens passiert, entgeht dem Schiedsrichter diese Szene. Daher kann man ihm keinen Vorwurf machen. Der Assistent hätte es eher sehen können, da er auf die Abseitslinie achtet. Aber vielleicht hat er auch andere Spieler auf dieser Linie im Visier gehabt und daher ist es ihm auch entgangen. Hier hätte es natürlich die rote Karte für Willers geben müssen, daher liegt eine Fehlentscheidung vor. Das sind Szenen, die nachträglich vom Sportgericht beurteilt werden können, wenn der Schiedsrichter ausdrücklich verneint den Vorgang gesehen zu haben, wovon ich ausgehe.
Szene 11: Beim Abstoß der Würzburger Kickers steigt Deniz Undav (SV Meppen) zum Kopfball hoch und springt dabei in den von hinten herankommenden Luca Pfeiffer (Würzburger Kickers) hinein. Für Undav hat das die zweite Gelbe Karte und damit von Schiedsrichter Patrick Kessel den Platzverweis zur Folge. [TV-Bilder – ab Minute 2:40]
Babak Rafati: Bei diesem Luftduell im Mittelfeld guckt Undav nach hinten und orientiert sich nur zu seinem Gegenspieler, um diesen vom Ball fernzuhalten. Dabei springt er hoch und trifft Pfeiffer mit der Schulter/Oberkörper im Gesicht, der dann schmerzverzerrt zu Boden geht. Diese Spielweise ist gelbwürdig, vergleichbar mit einem Ellenbogencheck, daher ist die gelb-rote Karte eine richtige Entscheidung.
Szene 12: Maximilian Welzmüller (Bayern München II) und Peter Kurzweg (FC Ingolstadt) geraten auf der Außenbahn in einen Zweikampf, an dessen Ende der Ingolstädter eine Tätlichkeit begeht und von Schiedsrichters Max Burda des Feldes verwiesen wird. Welzmüller, der drei Minuten vor der Szene bereits die gelbe Karte sah, hakte in der selben Situation aber bei Kurzweg ein. Die gelb-rote Karte gab es für den Münchener nicht. [TV-Bilder – ab Minute 59:15]
Babak Rafati: Bei diesem Zweikampf an der Seitenlinie hakt Welzmüller am Boden nach dem Ball und trifft dabei auch Kurzweg. Das ist ein Foulspiel, was der Schiedsrichter auch ahndet. Kurz nach dem Pfiff tritt Kurzweg wiederrum – noch am Boden – Welzmüller kurz und ansatzlos von der Seite in den Magen-/Oberkörperbereich, der dann auch zu Fall kommt. Die Aktion von Welzmüller im Kampf um den Ball ist nicht gelbwürdig, die Aktion von Kurzweg aber eine Tätlichkeit, sodass der Schiedsrichter in beiden Situationen die Übersicht behält und die jeweils richtige Entscheidung trifft.
Szene 13: Tobias Schröck (FC Ingolstadt) erobert den Ball im Mittelfeld und setzt zum Konter an. Erneut steht Welzmüller (Bayern München II) im Weg, der Ingolstädter fällt über den Münchener – erneut bleibt Welzmüller der Platzverweis erspart. [TV-Bilder – ab Minute 1:49:20]
Babak Rafati: Auch in dieser Szene liegt ein Foulspiel von Welzmüller im Mittelfeld vor, was aber harmlos ist und in die Kategorie "Allerweltsfoul" eingeordnet werden kann. Es liegt kein taktisches Foulspiel oder Überhärte vor, sodass es eine richtige Entscheidung ist, erneut nicht die gelbe Karte zu zeigen. Wohlbemerkt, dass in der vielfachen (!) Summe normale Fouls auch zu einer gelben Karte führen können und als "wiederholtes Foulspiel" kategorisiert werden.
[box type="info"]Weiterlesen: Wer am häufigsten benachteiligt wurde[/box]