Was 1860 zu einem Topfavoriten macht – und was noch nicht
Zweimal erreichte der TSV 1860 in den vergangenen beiden Jahren den vierten Platz, durfte sich damit zweimal als erster Verlierer fühlen. Der eigene Anspruch liegt höher, die Rückkehr in die 2. Bundesliga wird in der Saison 2022/23 fast automatisch zum Saisonziel, das ja in einer Verbesserung münden soll. Doch sind die Sechzger ein heißer Kandidat, was spricht dafür und was dagegen? Ein Überblick.
Was 1860 zum Aufstiegsanwärter macht
#1: Das sportliche Jahr 2022
Elfter war der TSV in der Hinrunde, in der vieles nicht funktionierte, er vielleicht auch an den hohen eigenen Erwartungen der Fast-Teilnahme an der Relegation 2020/21 scheiterte. 1860 identifizierte in Sascha Mölders den prominenten Störfaktor, warf ihn raus und stellte sich in den folgenden Gegenwind. Und siehe da, die Mannschaft funktionierte tatsächlich: Aus sechs Siegen in der Hinserie machten die Giesinger in der zweiten Saisonhälfte elf, nur der 1. FC Magdeburg holte mehr Erfolge und Punkte, nur der 1. FC Magdeburg schoss mehr Tore.
Er war es auch, der den Löwen kurz vor dem Saisonfinale nochmals die Grenzen aufzeigte, gegen die weiteren Aufsteiger Kaiserslautern und Braunschweig zog sich der TSV sehr beachtlich aus der Affäre, beendete die Saison mit einem 6:3-Heimsieg und dem Einzug in den DFB-Pokal versöhnlich. Daraus lässt sich Angriffslust ziehen.
#2: Gezielte Verstärkungen mit klarem Plan
Neun Transfers hat 1860 München bereits einen Monat vor dem Saisonbeginn an Land gezogen und damit die eine oder andere Duftmarke gesetzt. Heraus ragt ein Duo von Waldhof Mannheim: Jesper Verlaat kommt mit dem Anspruch, künftig der Abwehrchef zu sein und ein Upgrade zum abgewanderten Stephan Salger darzustellen. Joseph Boyamba wird auf den Flügeln wirbeln – schafft er es, aus guten Phasen eine ganze Saison auf hohem Niveau zu machen, könnte auch er ein Unterschiedsspieler sein.
Türkgücü-Duo Albion Vrenezi und Tim Rieder, Rieder spielte 2019/20 bereits ein ganz starkes Jahr bei den Löwen, könnte im offensiven und defensiven Mittelfeld Stammpositionen einnehmen. Ein solider Außenverteidiger wie Christopher Lannert (zuletzt Verl) ist in der 3. Liga auch Gold wert. Und dann ist da ja noch Martin Kobylanski, einer der besten Standardschützen und Techniker der Liga, der eine Luftveränderung dringend brauchte. Der BTSV-Zehner, Vrenezi, Boyamba, Stefan Lex und Torschützenkönig Marcel Bär – dieses Quintett sucht im Ligaverbund ihresgleichen.
Auffällig ist abseits der nominellen Beschlagenheit der Spieler auch der ähnliche Alterskorridor: Sechzig holte mit Ausnahme von Torwart Julius Schmid (21) und Fynn Lakenmacher (22) sieben Profis zwischen 24 und 28 Jahren – "perfektes Fußballeralter", ließe sich da reflexhaft ergänzen. Lex und Quirin Moll, die jeweils ins fünfte Löwen-Jahr gehen, sind damit bis auf weiteres auch die "Alterspräsidenten", dahinter soll eine möglichst homogene Einheit zusammenfügen. Auf dem Papier sind dafür starke Voraussetzungen geschaffen.
#3: Trainer mit Standing und Anspruch
"Wir wollen attackieren", sagt Michael Köllner zur Ausgangslage der Löwen. Er weiß ganz genau, dass er nicht um das große Ziel herumzureden braucht: Die nächste Verbesserung muss mindestens Platz 3 in der Endabrechnung sein, besser noch ein Rang höher. Köllner hat die Löwen-DNA längst im Blut, er geht in der Tabelle der dienstältesten Drittliga-Trainer als Nummer drei hinter Joe Enochs (Zwickau) und Horst Steffen (Elversberg) in die neue Saison.
Und: Er hat ja schon 45 Spiele Zweitliga-Erfahrung, stieg 2018 mit Nürnberg in die Bundesliga auf, stieß dann dort an die Grenzen des FCN-Kaders. Die Qualität als höherklassiger Coach muss Köllner aber niemandem mehr beweisen, im Gegenteil: Die Zügel bei einer vorzeitigen Verlängerung des 2023 auslaufenden Vertrages, die der TSV gerne schon erledigen würde, hat er in der Hand. Vielleicht liegt auf dieser Position sogar der größte Faustpfand der Löwen.
Welche Fragezeichen bleiben
#1: Findet sich das Mittelfeld?
Mit den beiden Löwen-Eigengewächsen Richard Neudecker und Dennis Dressel musste sich 1860 München in der Vergangenheit um das Herzstück der Mannschaft kaum Sorgen machen. Die beiden harmonierten im zentralen Mittelfeld, und obwohl sie aus verschiedenen Gründen – Neudecker etwa hatte wiederholt mit Krankheiten und Verletzungen zu kämpfen – nicht immer einsatzfähig oder in Topform waren, stützten sie das TSV-Spiel merklich. Nun ist Dressel zu Zweitligist Rostock abgewandert, was im Löwenrudel mit mehr Verständnis aufgenommen wurde als der Wechsel von Neudecker zu Rivale Saarbrücken.
Übrig bleiben Moll und Rieder mit Defensivstärke, Kobylanski mit seiner zuweilen eher gemächlichen Arbeit gegen den Ball – aber kein Alleskönner mehr. Zwar wird Daniel Wein nach langer Verletzung zurückkehren, jedoch kann seine Leistungskraft noch nicht seriös eingeschätzt werden. Entweder über eine angepasste Spielidee oder aber weitere Transfers müssen die Giesinger dies kompensieren, ein lückenhaftes Mittelfeld mit derart hartem Übergang kann sich ein spielstarker Aufstiegskandidat nicht leisten.
#2: Die Konkurrenz
Es gab sicherlich schon einfachere Jahre, um aufzusteigen. Dynamo Dresden und der FC Ingolstadt gehören der Kategorie erprobter Liganeulinge, die sich an das Fahrstuhl-Dasein fast schon gewöhnt haben und für die mit der Umstellung auf Drittliga-Betrieb keine Welt zusammenbricht, weder wirtschaftlich noch emotional.
Der FCI hat bereits vorgelegt, ist dazu noch ernstzunehmender und zahlungskräftiger Wettbewerber für spannende Spieler, die sich in Süddeutschland wohlfühlen. Dresden wird demnächst noch nachziehen, auch Saarbrücken und Waldhof Mannheim waren zuletzt nur schwer abzuschütteln.
#3: Der Clou mit Druck und Selbstverständnis
Im Vorjahr verpassten die Löwen schon im Herbst mit der ersten Krise den Anschluss, danach gab es Kritik unter anderem an der Vorbereitung, die – so sagte es neulich Stephan Salger in einem Interview – "nicht die beste" gewesen sei und sich durch die Hinrunde gezogen habe. Vielleicht lag dies auch am knapp verpassten Aufstieg 2020/21?
Nun geht alles auf Anfang, und die 15.000 Fans, die das Grünwalder Stadion zu jedem Drittliga-Heimspiel bevölkern werden, kommen in der Erwartungshaltung, ein Spitzenteam zu sehen. Sind die Löwen reif für dieses Selbstverständnis, können sie herausschlüpfen aus der ewigen Verfolgerrolle und erstmals ganz oben andocken? Ist die Widerstandskraft gegenüber Drucksituationen da und auch die Fähigkeit, Niederlagen rasch abzuheften? Keiner weiß besser als der TSV 1860 München: Aufsteigen wird, wer das Gesamtpaket dazu hat. Und genau dies müssen die Löwen, Favorit hin oder her, noch nachweisen.